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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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wünschte sich, noch weiter unter den Decken verschwinden zu können. Aber es half ja nichts.
    »Also, das war so«, fing sie an und fürchtete, lächerlich zu klingen. Nichts an ihrer Geschichte war glaubhaft, nichts.

    Sie saß in der kaiserlichen Loge des Kolosseums und sah dem Zweikampf der besten Kämpfer zu. Anschar und Darur rannten durch die riesige Arena, wirbelten mit den Füßen den Sand auf und beharkten sich mit Speeren, Dreizacks, Wurfnetzen, Schwertern und was sie sonst noch auf dem Boden an Waffen fanden. Jeder blutete aus Dutzenden von Wunden. Seit Stunden währte der Kampf. Der Kaiser, der an Grazias Seite saß, wirkte gelangweilt. Sie hingegen schrie sich die Kehle aus dem Leib – nein, sie versuchte es, aber es drang kein Laut hervor, so sehr sie sich auch anstrengte. Sie wusste, dass Anschar unterlag, wenn es ihr nicht gelang, ihn anzufeuern. Er hieb und stieß sich seiner Niederlage entgegen. Dann fiel er. Darur packte seine Zöpfe und zerrte ihn auf die Knie. Das Schwert lag an Anschars Kehle. Der Sieger blickte zum Kaiser hoch. Der Reichsadler auf dem Helm reckte sich in die Höhe, als sich Wilhelm erhob – eine in eine prächtige Galauniform gehüllte Gestalt, deren Epauletten, Schnüre und Orden in der Sonne glänzten. Er strich sich mit einer behandschuhten Hand über den Bart. War es nicht doch Friedrich, der da stand? Aber Friedrich hatte keinen verkürzten linken Arm. Der Kaiser streckte den rechten Arm vor und den Daumen seitwärts aus. Gebannt starrte Grazia darauf, als könne sie mit ihrem Blick dafür sorgen, dass er sich hob. Er tat es auch, doch nur, um sich plötzlich nach unten zu wenden. Sie sprang auf, um den Arm zu packen, griff ins Leere, taumelte gegen die Brüstung und stürzte in die Tiefe.
    Das Gefühl, als hebe sich ihr Magen, weckte sie auf. Oder waren es die Stimmen ihrer Eltern gewesen? Grazia setzte sich auf und entzündete die Kerze auf ihrem Nachttisch. Wie früher blickte sie ihr verschlafenes Spiegelbild über der Kommode an. Wann hatte sie sich zuletzt in einem richtigen Spiegel gesehen? Ein Kupferspiegel hatte klare Vorteile, wie sie fand. Man sah nicht jede ernüchternde Einzelheit. Nicht
die aufgequollenen Augen, nicht die blassen Wangen. Nicht die Trauer.
    Der Wecker zeigte kurz nach elf. Ihr Vater war zwar oft lange wach, um seinen Studien nachzugehen, aber ihre Mutter hielt so schnell nichts davon ab, spätestens um neun Uhr zu Bett zu gehen. Heute hat sie einen Grund, schlaflos zu sein, dachte Grazia. Sie hörte, wie Friedrich leise zur Wohnungstür geleitet wurde.
    »Grüßen Sie bitte Grazia. Ich möchte morgen gern wiederkommen und sehen, wie es ihr geht.«
    »Darauf freuen wir uns, Herr Mittenzwey.«
    Die Dielen knarrten unter seinen Schritten. Die Tür klappte zu. Grazia lief zum Fenster und sah zu, wie er in einen Kremser stieg. Es machte ihr nichts aus, dass sie ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, weil sie über ihrer Erzählung eingeschlafen war. Gar nichts.
    Sie hörte ihren Namen fallen. Leise öffnete sie ihre Zimmertür. Der Salon war hell erleuchtet. Ihre Eltern standen unter dem elektrischen Lüster. Sehen konnte sie nur eine Hand ihrer Mutter, die mit einem Taschentuch gestikulierte.
    »Sie hat irgendetwas angestellt und den Tag genutzt, sich diese Theaterrequisiten zu beschaffen. Carl! Du kannst ihr das doch nicht allen Ernstes glauben?«
    »Kennst du deine Tochter so schlecht? Du glaubst wirklich, dass sie sich das aus den Fingern saugt, um etwas zu vertuschen, was immer das sein soll? Das sähe ihr nicht ähnlich.«
    »Nein. Aber dass diese Geschichte stimmt, ist ja noch weniger zu glauben.«
    »Luise, das sind keine Requisiten. Das Gold an dem Mantel ist echt. Pures Gold! Hast du eine Vorstellung, was er wert ist? Die Zeichnungen – sie können unmöglich ihrer Fantasie entsprungen sein. Glaubst du wirklich, sie hat das Gedicht
vom Herrn Ribbeck in eine Fantasiesprache übersetzt? Es hatte Rhythmus, Diktion und klang sehr vielfältig; das war nichts Ausgedachtes.«
    »Gewiss war es das. Wo soll sie denn so schnell eine fremde Sprache herhaben?«
    »Warum nicht, sie ist ein kluges Kind. Schliemann hat etliche Sprachen gelernt und dafür nur jeweils ein paar Wochen gebraucht, um sie fließend zu beherrschen. Unmöglich ist das nicht.«
    »Jetzt kommst du mir mit Heinrich Schliemann! Das wird ja immer schöner.«
    »Und wie erklärst du dir, dass sie vorgestern Abend vornehme Blässe aufwies und heute aussieht, als habe sie den

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