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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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konnte sie den Mann vergessen, den sie liebte?
    Sie erschrak vor sich selbst. Nun hatte sie es sich eingestanden. Sie liebte Anschar. Begriff sie das wirklich erst jetzt? War sie so blind gewesen? Hatte sie es nicht wahrhaben wollen? Nun war sie da, die Erkenntnis, und sie war ebenso schmerzhaft wie berauschend. Mit aller Kraft presste sie die bebenden Lippen aufeinander, um nicht loszuheulen. Anschar. Anschar
… Ewig würde sich der Name in ihr Herz brennen. Ihn vergessen? Wie oft hatte man das nun schon von ihr verlangt? Und war es ihr je gelungen? Nein, niemals. Niemals.

    Die Droschke brauchte bis zum Abend, bis sie vor der Bel Etage ihrer Eltern hielt. Grazia stieg aus und betrachtete die Hausfassade mit ihrer klassizistischen Front. Fünf Stockwerke. Der argadische Palast war fast ebenso hoch gewesen, aber ohne all die Erker, Dreiecksgiebel über den Fenstern, Pilaster und Medusenhäupter, die ihr jetzt so fremd vorkamen. Über das schmiedeeiserne Balkongitter beugte sich das Dienstmädchen.
    »Fräulein Grazia!«, schrie Adele, wedelte wild mit der Gießkanne, sodass Wasser herunterspritzte, und stürzte durch die Balkontür, die in den Salon führte. Kurz darauf öffnete sich die Haustür, und sie flog ihr entgegen. »Was ist denn nur passiert? Sind Sie in die Havel gefallen? Wo waren Sie denn bloß?«
    »Alles zu seiner Zeit«, antwortete Friedrich an Grazias statt. »Wenn wir nicht gleich in trockene Sachen kommen, holen wir uns noch eine Erkältung.«
    Justus kam die marmorne Treppe heruntergesprungen. Skeptisch beäugte er seine Schwester, aber nicht lange, denn sie stürzte auf ihn zu und riss ihn in die Arme. Er ließ es über sich ergehen. Erst als sie ihn abküssen wollte, wehrte er sich.
    »Du tust ja grade so, als wärst du …«
    »… ein Jahr fort gewesen«, nahm sie ihm die Worte aus dem Mund. Eigenartig, dachte sie. Erst Justus erinnerte sie daran, dass sie die ganze Zeit unter Heimweh gelitten hatte. Sie fuhr mit den Fingern durch seinen Schopf. »Und, haste Senge gekriegt?«
    »Na klar. Hab ich doch gleich gewusst.«

    »Ich wollte nicht, dass das so passiert, ehrlich. Justus, ich habe deine Uhr verschenkt.«
    »An wen denn?«
    Sie warf einen vorsichtigen Seitenblick zu Friedrich, aber der drängte schon die Treppe hinauf. »An einen Mann, den du mögen würdest. Einer wie … wie Michael Strogoff.«
    »Du redest ja komisches Zeug.« Er hüpfte die Stufen hinauf. »Vielleicht krieg ich ja zu Weihnachten’ne neue.«
    »Du glaubst mir nicht?« Sie hastete ihm nach. »Na warte, du wirst staunen, das verspreche ich dir!«
    »Grazia!« Ihre Mutter stand in der Wohnungstür, die Hand vor den aufgerissenen Mund geschlagen. »Du bist ja …«
    »Nass, ja.« Grazia gab ein Niesen von sich, das sie fast von den Füßen hob.
    »Deine Haut ist ja so anders. Und ganz klamm.« Die Mutter umfasste ihre Wangen mit Fingern, die selbst nicht warm waren. »Du musst sofort aus den Sachen heraus. Was hast du da?« Sie machte Anstalten, ihr die Tasche wegzunehmen. »Das sieht ja ganz schäbig aus.«
    »Lass sie mir.« Grazia klammerte sich an der Tasche fest. Wo war Friedrich? Sie sah ihn im Salon stehen und mit ihrem Vater sprechen. Auch wenn es schön war, die Mutter wiederzusehen – der Anblick des Vaters ließ sie vor Freude jubeln. Sie gab ihr einen Kuss, schob sich an ihr vorbei und eilte ihm entgegen. So sehr hatte sie sich danach gesehnt, nach seiner breiten Brust, dem Geruch nach Zigarren und Rasierwasser und dem, was ihn unvergleichlich machte. Sie ließ die Tasche fallen, um die Arme um seinen Leib legen zu können. Er drückte sie an sich und streichelte ihr Haar. Über ihren Kopf hinweg redete er irgendetwas von einem nötigen, aber nicht allzu dringlichen Anruf bei der Polizei. Anscheinend hatte er sie als vermisst gemeldet. Welche ehrbare Tochter verschwand auch spurlos und blieb über Nacht fort? Im
Hintergrund hörte sie ihre Mutter, wie sie Adele anwies, für ein heißes Bad zu sorgen.
    »Hat dir jemand irgendetwas angetan?«, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Es ist mir nichts passiert. Aber es ist eine lange Geschichte. Viel länger, als du denkst. Bist du mir böse?«
    »Gestern war ich das noch. Jetzt bin ich nur erleichtert. Wenn es für diese Geschichte keine Kurzfassung gibt, müssen wir uns wohl in Geduld üben. Das heißt, Herr Mittenzwey ist ja da und kann hoffentlich für Abhilfe sorgen. Du begibst dich jetzt erst einmal in die Hände deiner Mutter.«
    Er schob sie von sich

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