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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Zigarre anzustecken. Sie fiel ihm aus dem Mundwinkel.
    »Herr Mittenzwey!«, rief der Fährmann. »Wusste ja janisch, dat Se hier sind. Und det Frollein ooch? Und alle beede patschnass!«
    »Den Wievielten haben wir heute?«, fragte Friedrich.
    »Den Achtzehnten.«
    »Welcher Monat?«
    Der Mann kratzte sich sichtlich verwirrt unter der Mütze. »Na, September.«
    »Bringen Sie uns bitte hinüber. Und wenn Sie eine Decke für die Dame hätten?«
    »Na ja, na sicher«, murmelte der Fährmann, verschwand kopfschüttelnd im Fährhaus und kehrte mit einer Decke zurück, die Friedrich ihm aus den Händen nahm, um sie Grazia um die Schultern zu legen. Er stützte sie, als sie auf die Fähre stieg, die ihr so schwankend wie nie vorkam. Bald waren sie auf der anderen Uferseite angelangt, aber inzwischen war ihr so kalt geworden, dass sie darüber fast das Zittern vergaß. Eine Droschke rollte heran. Friedrich holte aus seiner nassen Hosentasche ein paar Groschen.
    »Ich würde uns gern die Zugfahrt ersparen. Aber nicht einmal dafür reicht es.«
    Grazia holte den Zehnmarkschein aus ihrem Portemonnaie. Als Friedrich ihn entgegennahm, hätte sie das Geld fast wieder an sich gerissen.
    »Was ist denn?«, fragte er.
    »Stell dir vor, der Kaiser hätte den Schein in der Hand gehabt. Würdest du ihn dann einfach ausgeben wollen?«
    »Wovon redest du nur?« Er nannte dem Kutscher das Ziel. Dann half er ihr in die Droschke, setzte sich an ihre Seite und
schloss den Schlag. Das Klappern der Hufe, das Rattern der Räder, es war so vertraut und doch so unwirklich. Wann hatte sie zuletzt schmutzige Jungs beim Bolzen gesehen, wie jetzt am Straßenrand? Eine Spreewaldamme mit ihrer ausladenden weißen Haube? Oder einen Mann im zerschlissenen Frack, der Drehorgel spielte? Die Polizisten mit ihren Pickelhauben, die soeben einen Motorwagen angehalten hatten und ratlos dreinschauten, als überlegten sie, ob so ein Gefährt hier überhaupt fahren durfte? Ich war viel länger weg, dachte Grazia und packte Friedrichs Arm.
    »Er hat gesagt, es gibt hier keine Zeitabweichungen. Aber so genau kann er es doch gar nicht gewusst haben.«
    »Der Mönch? Das weiß ich doch nicht.«
    Sie ließ ihn wieder los. »Wir müssen eine Zeitung kaufen. Ich habe gerade einen Zeitungsjungen gesehen.«
    »Grazia, wir sind doch gleich da. Deine Eltern werden schon bestätigen, dass wir den achtzehnten September haben.«
    »Aber vielleicht ein Jahr später!«
    Friedrich brummte etwas in seinen Bart und klopfte gegen das Sichtfenster. Sobald die Droschke stand, stieß er den Verschlag auf und sprang hinaus. Nur wenige Augenblicke später kehrte er zurück, befahl die Weiterfahrt und legte Grazia eine Zeitung auf den Schoß.
    »18. September 1895«, murmelte sie, erleichtert das Papier betastend. Sie waren nach hiesiger Zeitrechnung tatsächlich nur einen Tag fort gewesen. »Weißt du, dass sich das argadische Papier ganz ähnlich anfühlt? Es ist aber nicht grau, eher grünlich. Das liegt an den Felsengrasfasern. Es gibt aber auch weißes, das ist fast schon wie Buchdruckpapier. Und auf Ton schreibt man dort nur wichtige Sachen, weil Ton dauerhafter ist. Es ist genau andersherum als beispielsweise in Ägypten, wo Tonscherben als wertloses Schreibmaterial galten. Ist das nicht erstaunlich?«

    »Woher weißt du das?«
    »Ich war doch länger dort als du.«
    »Ach ja, richtig. Das werde ich wohl nie begreifen.«
    »Außerdem hat Anschar mir das mit dem Papier erklärt. Er hatte …«
    »Es wäre mir recht, wenn du nicht über ihn sprechen würdest«, unterbrach er sie barsch.
    Grazia schluckte ihre Worte herunter. Ihr wollten vor Ärger die Tränen kommen. Verlangte er allen Ernstes, dass sie Anschar nie wieder erwähnte?
    »Nur eines will ich von ihm wissen«, sagte Friedrich. »Hat dieser Barbar sich dir aufgedrängt?«
    »Aufgedrängt?«
    »Du weißt, was ich meine. Er hat deinetwegen geflennt wie ein Kind. Hast du mit ihm irgendwelche Dummheiten gemacht?«
    Dummheiten? Meinte er etwa das, was sie in der Nacht vor der Flucht beinahe mit Anschar getan hätte? Friedrichs Blick bohrte sich in sie. Sicherlich konnte er sehen, wie ihr Herz gegen ihren Hals schlug. »Nein«, brachte sie endlich heraus. Es war nur ein Flüstern. »Nein, ich schwöre es. Die Argaden haben bloß nah am Wasser gebaut.«
    »Na schön. Dann wollen wir ihn vergessen.«
    Ihre Finger bohrten Löcher in die Zeitung. Friedrichs Aufforderung war durchaus als großzügiges Angebot zu werten, dennoch! Wie

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