Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
ganzen Sommer in Italien verbracht? Was ist mit Friedrich? Er bestätigt ihre Geschichte. Hast du gesehen, wie verwirrt er den ganzen Abend über war? Fast eingeschüchtert? Ein gestandener Kerl wie er?«
    »Für das alles muss es plausiblere Erklärungen geben als das, was Grazia erzählt.«
    »Gut, und welche fallen dir ein?«
    Schweigen setzte ein. Grazia hörte, wie er sich eine Zigarre anzündete. Und sie glaubte sogar zu hören, wie ihre Mutter streng den Mund spitzte.
    »Ich glaube, sie ist an irgendeinen Kerl geraten. Und jetzt muss sie die Folgen vertuschen. Zwar hätte ich Friedrich nicht so eingeschätzt, dass er sie dabei unterstützt, aber nun ja, er tut es.«
    »Das ist doch Mumpitz.«
    »Carl!«
    »Hab noch nie davon gehört, dass ein Fehltritt eine solch ungewöhnliche Vertuschungsaktion nach sich zieht. Da wäre es wirklich einfacher, sich hinzustellen und dazu zu stehen. Und genau das würde Grazia tun.«

    »Ich sage dir, der Grund ist dieser Mann, von dem sie erzählt hat. Der hat ihr auch diesen Anhänger gegeben, den sie wie ihren Augapfel hütet. Wenn du nur Augen im Kopf hättest, wüsstest du, dass sie verliebt ist. Und es sieht anders aus als damals mit Friedrich. Es sieht ernst aus.«
    Hörbar sog er an der Zigarre und blies den Rauch aus. Das tat er mehrere Male. »Hm«, machte er schließlich. Grazia konnte sich vorstellen, wie er die Zigarre anstarrte, während er nachdachte. »Würde das ihre Geschichte nicht bestätigen? Ernst kann es nur werden, wenn es Zeit hatte zu reifen. Aber wenn es so ist, haben wir wirklich ein Problem.«
    Ich vor allem, dachte Grazia und schloss lautlos die Tür. Die Diskussion ließe sich leicht beenden – sie musste nur die Hand ausstrecken und den endgültigen Beweis liefern. Aber danach würde ihr Leben nie mehr so sein wie zuvor. Sie wollte ihr altes Leben zurück. Sie wollte der Vernunft gehorchen, Anschar vergessen und Friedrich lieben.
    Warum trägst du dann den Anhänger?, fragte sie ihr Spiegelbild. Sie tastete nach dem Schmuckstück unter ihrem Nachthemd. Die Erinnerung, die daran hing, war so schmerzlich wie wohltuend.
    Ihn vergessen. Vergessen .
    Sie ging zu ihrem Damenschreibtisch und öffnete die Schublade. Auf der Suche nach ihrem Aquarellkasten fiel ihr eine staubige Muschel in die Hand. Sie blies darüber und betrachtete sie von allen Seiten, als wäre es eine Kostbarkeit. Dann zog sie den Kasten heraus und hockte sich wieder auf die Bettkante.
    Man benutzte dunkles Blau. Das edle Pariser Blau erschien ihr angemessen. Grazia befeuchtete den Tiegel und strich mit dem Daumen darüber, bis sich die Farbe löste. Dann fuhr sie sich damit durchs Gesicht, unterhalb der Augen, immer wieder, bis die Wangen fast bis zu den Nasenflügeln bedeckt
waren. Schon flossen die Tränen und zogen Furchen durch die Farbe. Blaue Tropfen rannen über die Wangen, den Hals hinunter und in den Ausschnitt des Nachthemds. Sie ließ den Kasten fallen, griff sich ins Haar und raufte es.
    Es klopfte kurz, die Tür flog auf, und ihre Mutter rauschte herein. Grazia zuckte zusammen. Hatte sie wirklich so laut geweint?
    »Kind, was ist denn? Was … o Gott!«
    Sofort war die Mutter über ihr und rüttelte sie an den Armen.
    »Was tust du denn da? Grazia, was ist nur in dich gefahren? Carl! Carl!«
    Der Vater kam mit schnellen Schritten ins Zimmer. »Was ist denn los?«
    »Sieh dir das an!« Sie drehte Grazia an den Schultern zu ihm herum. »Was ist nur aus ihr in diesen anderthalb Tagen geworden? Was sollen wir bloß machen?«
    Grazia versuchte sich zu befreien und unter die Bettdecke zu flüchten. Hätte sie es nur sein lassen, sich so zu verunstalten! Ihre Mutter zerrte sie kurzerhand in die Küche und wusch ihr über dem Spülstein das Gesicht. Wie einer kleinen Rotznase bekam sie jeden Winkel gesäubert und trocken gerieben.
    »Dass du mir so etwas nicht noch einmal tust!«, rief die Mutter. »Warum hast du geweint? Warum bist du so verändert? Herr Mittenzwey hat das auch gesagt.«
    »Du glaubst also, dass ich ein Jahr weg war?«
    »Gewiss nicht«, schnappte die Mutter pikiert. »Ich glaube, dass du schon länger einen Liebhaber hast. Und jetzt hat er dich herumgekriegt. Ist es so?«
    »Nein!«
    »Aber etwas hat er mit dir getan.« Sie zog Grazia vom Spülstein weg und rüttelte sie wieder. Viel würde nicht fehlen,
und Grazia wäre imstande, ihr einen Wasserschwall ins Gesicht zu schleudern.
    »Lass mich los!«, rief sie. »Sonst tue ich etwas, das dir wirklich nicht

Weitere Kostenlose Bücher