Das gläserne Tor
stelle ich mich nicht dumm an, und ich muss
dann wenigstens nicht den ganzen Tag vor den Zelten sitzen, wie es bei euch üblich ist, und mich anstarren lassen.«
Auch jetzt waren sämtliche Blicke auf Anschar gerichtet. Er fand es erstaunlich, wie die Frauen ihren Tätigkeiten rund um die Herdstelle nachgehen konnten, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Wie lange würde es dauern, bis sich dieses Misstrauen legte?
»Das musst du ja nicht«, meinte Parrad. »Ich genieße es noch, frei durch den Wald zu laufen. Keine Peitsche, keine Halsschlinge. Versuch es. Da draußen lässt sich von der Freiheit träumen.«
»Daran liegt mir nichts. Freiheit, das ist mir unbekannt. Ich träume davon, dass mein Leben so wird wie früher, als ich in den Diensten des Meya stand. Es war kein schlechtes. Ich würde alles wagen, es zurückzubekommen, wenn ich nur eine Möglichkeit sähe. Aber es gibt keine.« Anschar stand auf und warf einem Kind die Schale zu. Es fing sie ungeschickt auf und rannte zu einer der Frauen an der Kochstelle, wo es sich an ihr schäbiges Gewand schmiegte und ihn mit großen Augen ansah. »Meine Geschichte kennst du ja.«
»Habe ich das richtig gehört?«, fragte da Jernamach, der sich näherte. »Du würdest es tatsächlich vorziehen, ein Sklave zu bleiben?«
»Was meinst du damit? Ich bin es doch. Ihr auch. Dass wir hier sind, ändert daran gar nichts. Wir sind immer noch Gefangene. Der Wald ist unser Gefängnis.« Anschar zupfte an seinem Ohrläppchen. »Ihr habt eure Ohrhaken entfernt, aber die Löcher markieren euch trotzdem. Zugegeben, euer Leben in Hersched war erbärmlich, daher kann ich nachvollziehen, dass ihr euch jetzt vorgaukeln wollt, frei zu sein.«
»Er bringt nur Unruhe mit seinem Gerede!«, rief eine alte Frau, die im Kessel an der Feuerstelle rührte. »Ein Argade unter uns, wie lange kann das gut gehen?«
Zustimmendes Gemurmel machte sich breit. Anschar warf die Hände hoch und stand auf. Wozu redete er mit diesen Leuten? Es konnte ihm gleichgültig sein, was sie dachten. Seine Freunde würden sie ohnehin nie werden. »Ihr müsst nicht zuhören, beachtet mich einfach nicht. Ich wäre froh darum!«
Jernamach wiegte beschwichtigend das kahle Haupt. »Deine Einstellung verwundert uns, das ist alles. Wir werden uns schon aneinander gewöhnen.«
»Ich bin von Geburt an Sklave, daran liegt es wohl. Weißt du, wo das nächstgelegene Dorf mit einer Schmiede ist?«
Die Augen des Alten weiteten sich. Er fasste Anschar am Arm und nötigte ihn, sich mit ihm ein paar Schritte zu entfernen. Seine Stimme senkte sich. »Was willst du dort?«
»Mir ein Schwert beschaffen.«
»Hier brauchst du Pfeil und Bogen, aber kein Schwert. Ja, Parrad hatte erwähnt, dass du ein Krieger bist. Aber hier ist niemand, gegen den du kämpfen musst.«
»Wer kann das schon wissen? Ich komme mir ohne Schwert nackt vor, aber auch das ist etwas, über das wir ewig streiten können, also beantworte einfach meine Frage.«
Jernamach stieß ein ergebenes Seufzen aus. »Du bist wirklich schwierig. Nun gut, es ist deine Sache. Ja, wir wissen von einem Dorf, und da gibt es auch einen Schmied. Ab und zu wagt sich einer unserer jüngeren Männer dorthin, um Dinge für unseren Bedarf einzutauschen. Er ist der Einzige, dem nie das Ohr gestochen wurde, weil er rechtzeitig floh. Ich sage ihm, dass er dich begleiten soll, denn allein würdest du dich verirren. Aber du musst versprechen, dass du uns nicht verrätst, sollte man dich gefangen nehmen.«
»Eher lasse ich mir die Zunge herausschneiden.« Anschar würde sowieso mit äußerster Vorsicht vorgehen müssen, denn ihm blieb keine andere Wahl, als die Waffe zu stehlen. Er
hatte nichts zum Tauschen. »Ihr solltet euch auch anständig bewaffnen.«
»Wir?« Jernamach lachte unsicher. »Wir sind ein friedfertiges Volk.«
5
K urz vor der Ankunft verlor Grazia die Orientierung. So war es auch beim ersten Mal gewesen – nur Schwärze, von der sie nicht wusste, ob es eine Ohnmacht war. Hart schlug sie auf und blieb benommen und nach Luft ringend liegen. Licht schimmerte durch ihre Lider, die unendlich schwer zu öffnen waren. Als sie es geschafft hatte, erblickte sie die Lichtsäule. In wenigen Metern Entfernung schwebte sie über dem Boden, tatsächlich wie aus milchigem Glas. Es war Nacht, und so leuchtete das Tor stärker als je zuvor.
»Fräulein Grazia! Alles in Ordnung?« Bruder Benedikt tauchte an ihrer Seite auf und half ihr aufzustehen. Sie musste sich an seinem Arm
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