Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
sich vor, um die Antwort von Anschars Lippen zu reißen. Abwehrend hob er die Hände.
    »Lasst mich nachdenken. Ganz sicher bin ich mir nicht. Der König von Hersched hat den letzten Gott in seiner Gewalt. Ihr habt von den Suchtrupps gehört, die von den Königen in die Wüste geschickt wurden, um den Gott zu finden?«
    Sie nickten zustimmend.
    »Mallayurs Trupp war erfolgreich. Nun hat er den Gott, aber der verweigert sich ihm. Daher will er ihn mit dem Blut eines tapferen Kriegers gefügig machen. Die alten Krieger hatten vor langer Zeit ihre Leben hingegeben, um die Götter zu besänftigen. Es hatte nichts geholfen. Mallayur glaubt aber noch daran. Ich hätte dieses Opfer sein sollen. Ich oder wen immer er sonst in seinen Reihen für den besten Krieger hält. Da ich nicht ganz so gehorsam war, wie er mich gern gehabt hätte, entschied er sich für mich.«
    »Du bist ein Krieger?«, fragte ein Wüstenmann.
    »Ja«, warf Parrad grimmig ein. »Die Tätowierung auf seinem Arm weist ihn als einen der zehn gefährlichsten aus. Und das ist er, das kann ich beschwören.«
    Anschar winkte ab, damit er schwieg und seine Überlegungen nicht störte. »Das Blut von Wüstenmännern ist kein
angemessenes Opfer. Bevor ihr jetzt aufbegehrt – so sieht man das bei den Völkern des Hochlandes. Dass es vergossen wurde, dafür kann es nur einen Grund geben. Mallayur hat sich Sklaven aus den Werkstätten geholt und mit ihnen den Schamindar … angefüttert. Ich weiß, das klingt übel, aber er ist auch ein übler Mensch. Hätte er es nicht getan, hätte die Große Bestie nicht gewusst, wann sie sich das eigentliche Opfer holen kann. Ich wäre womöglich auf dem Felsen verhungert und von Krähen angefressen worden. Dann wäre der beste Krieger als Opfer vergeudet gewesen.«
    »Wie schändlich!«, rief einer der Männer. »Was sind die Hochländer doch für ein blutdürstiges Volk.«
    Anschars Augen verengten sich. Er hätte ihm gern an den Kopf geworfen, dass Wüstenhunde ihre Opfer ohne Proviant in die Wüste zu schicken pflegten, doch er beherrschte sich. Er musste sich beherrschen – vorerst.
    »Wir werden bald wissen, ob deine Vermutung stimmt«, ergriff Jernamach wieder das Wort. »Wenn es so ist, werden die Opfer jetzt aufhören. Der Schamindar hat, was er bekommen sollte. Jedenfalls glauben das die Herscheden, sofern Tenam und Jalam sorgfältig gearbeitet haben.«
    »Was haben sie überhaupt getan?«, fragte Anschar.
    Die Männer lachten verhalten. »Falsche Spuren gelegt«, erklärte Jernamach. »Dazu nehmen sie einen Schlauch mit frischem Ziegenblut, das sie am Felsen verspritzen. Das durchgeschnittene Ende des Bandes kämmen sie aus, sodass es aussieht, als sei es gerissen. Und dann ziehen sie Spuren im Geröll, als hätte die Bestie dich weggeschleppt. Es ist ziemlich aufwendig, aber sie machen das hervorragend. Bisher scheint niemand auf den Gedanken gekommen zu sein, dass nicht alle Sklaven dem Schamindar begegnet sind.«
    Anschar betastete seine verletzte Schulter. Bisher hatte er auf das Brennen nicht geachtet, doch es wurde zusehends
schlimmer. »Dann hatte ich wohl Pech, denn ich bin ihm begegnet.«
    »Du bist verletzt?« Jernamach rückte an ihn heran und schob den Stoff hoch, bis die Wunde frei lag. »Beim Herrn des Windes! Die Bestie hat dich gezeichnet. Das werden wir nachher gut versorgen. Nicht dass du doch noch ihr Opfer wirst.« Er hob die Decke an und warf einen Blick hinaus. »Es dämmert bereits. Es wird Zeit, dass du den Ort kennen lernst, wo du den Rest deines Lebens verbringen wirst.«

    Anschar hockte auf einem gefällten Baumstamm, den Rücken an eine knotige Zeder gelehnt. Er hatte den Überwurf ausgezogen und sich um die Hüften gewickelt. Eine Frau saß an seiner Seite und behandelte seine Schulter, während das ganze Dorf im Halbkreis um ihn stand und ihn musterte. Es waren viele Frauen darunter, auch alte Männer und Kinder. Das älteste Kind, dessen Ohr nie durchbohrt worden war, mochte fünf Jahre alt sein, ein Wüstenkind, das nur den Wald kannte und nichts anderes sehen würde. Immer noch fiel es Anschar schwer, all das zu glauben, obwohl er während der Wanderung an kaum etwas anderes gedacht hatte. Sie waren fast unsichtbaren Pfaden gefolgt, hatten sich durch dichtes Unterholz geschlagen, Bachläufe und kleine Schluchten überquert, und das auf derart verschlungenem Wege, dass Anschar seine Frage beantwortet sah, warum das Dorf, wie Jernamach es so hochtrabend nannte, schon so lange

Weitere Kostenlose Bücher