Das gläserne Tor
festklammern.
»Ja, meine Knie sind nur so zittrig. Wo ist mein Koffer?«
»Den habe ich. Sehen Sie! Das Tor verschwindet. Es kehrt in die Berge zurück.«
Das Licht wurde schwächer. Die Säule schien sich in nichts aufzulösen. Nach und nach wurde Grazia gewahr, dass sie wieder in der argadischen Welt war. Aber wo genau? Noch war sie geblendet vom Licht. Sie rieb sich die Augen und gab sich der Hoffnung hin, nicht in der Wüste gelandet zu sein. Dann erkannte sie im Schimmer der inzwischen vertrauten
Monde schlichte getünchte Hauswände, geschlossene Fensterläden. Kahle Büsche, die über kniehohe Mauern ragten. Sie befand sich in einer Stadt, in einer menschenleeren Gasse. Aber wo? Welche Stadt mochte dies sein?
»Ich bin mir nicht sicher«, beantwortete Bruder Benedikt die unausgesprochene Frage. »Aber wir müssen … Fräulein Grazia, was tun Sie da?«
Sie hatte das Seil aufgeknotet und war auf eine der Mauern zugegangen. Vorsichtig streckte sie die Finger nach einer Blume aus, die über den Mauerkranz ragte, und betastete die abgestorbenen Blüten. »Da schlag doch einer lang hin! Wir sind in Hersched. Diese Blume wächst nur hier.«
»Ich glaube, wir sind sogar in Heria. Aber seien Sie um Himmels willen leise, nicht dass gleich die Fensterläden auffliegen und es Geschrei gibt. Fräulein Grazia, Sie müssen Ihre Schuhe ausziehen, wenn Sie nicht wollen, dass Sie damit Tote aufwecken.«
»Oh. Ja, natürlich.« Sie ließ sich den Koffer geben, legte ihn auf das Mäuerchen und kramte nach dem argadischen Schuhwerk. »Wenn Sie sie bitte aufschnüren würden?«
Angesichts dieser unsittlichen Aufgabe schlug Benedikt ein Kreuz und ließ sich auf die Knie nieder, um ihr aus den nassen Stiefeletten und in die Sandalen zu helfen. Grazia überlegte, sich in der allerdunkelsten Ecke gleich ganz umzuziehen, aber das war ihr dann doch zu abenteuerlich.
»Machen wir, dass wir fortkommen.« Er nahm wieder den Koffer an sich und fasste ihren Ellbogen. Sich in Heria zu befinden, war unangenehm. Andererseits war sie zutiefst erleichtert, nicht irgendwo in der Wildnis zu sein. Gar in der Wüste! Das war ihre größte Sorge gewesen. Sie schickte ein Dankgebet in den Himmel. Aber wie viel Zeit war vergangen? Hier war niemand, den sie fragen konnten. Ein herumschlendernder Mann, der offenbar von einer Zechtour kam, drückte
sich an eine Hauswand, als sie an ihm vorbeieilten. Ein vermeintlicher Inar-Priester und eine Frau in fremder Kleidung, beide klitschnass, das musste jeden aufmerken lassen.
»Dort ist die Schlucht«, flüsterte Bruder Benedikt. »Kommen Sie!«
Er schlug den Weg in eine Gasse ein, die rechter Hand zur Schlucht führte. Sie mündete in eine weitere Gasse, die entlang der hüfthohen Mauer verlief, welche sie vom Abgrund trennte. Der glatte Fels schimmerte fahl im Mondlicht. Grazia konnte die Gräser in den Spalten sehen, wie sie sich in der nächtlichen Brise wiegten. Ein trockener Geruch nach Staub stieg aus der Schlucht empor. Nach einigen Minuten endete der Weg vor einem nicht sehr weitläufigen Platz, der von kleinen Läden, der Umfassungsmauer des Palastes und der Brücke nach Argadye begrenzt wurde.
»Ich weiß, wo wir sind«, flüsterte sie. »Das tägliche Treiben hier habe ich oft von der argadischen Seite aus beobachtet.«
Da waren die Weinhandlung und daneben der Laden, in dem man Tongefäße erwerben konnte. Am Tor der Palastmauer, auch das wusste sie, standen stets zwei Wachtposten.
»Und jetzt?«, fragte Bruder Benedikt. »Haben wir von diesen Männern irgendetwas zu befürchten?«
»Falls sie mich wiedererkennen, werden sie mich sicherlich zu Mallayur bringen wollen. Ich war bereits in diesem Palast, und das reicht mir für den Rest meines Lebens.«
»Dann sollten wir wohl einen Umweg machen.«
»Warum laufen wir nicht einfach? Bis sie uns eingeholt haben, sind wir drüben in Argadye.«
»Also gut.« Er presste den Koffer an sich. »Gott befohlen und los!«
Sie rannten über den Platz. Grazia achtete nicht darauf, ob sie verfolgt wurden. Mit einer Hand raffte sie den Rock, mit der anderen hielt sie sich an Bruder Benedikt fest. In
den Sandalen lief es sich leicht, und so hatten sie schnell die Brücke erreicht. Hier warteten zwei argadische Wachposten, die ihre Speere senkten.
»Lasst uns in die Stadt!«, rief Bruder Benedikt. »Wir müssen augenblicklich zum Meya.«
»Er ist ein Priester«, sagte einer der Wächter. »Wir sollten ihn durchlassen.«
»Sich ein weißes Gewand
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