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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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überstreifen kann jeder«, erwiderte der andere. »Er soll bis zum Morgengrauen warten, wie es üblich ist.«
    »Ich bin nicht irgendein Priester!«, dröhnte Bruder Benedikt, dass es von den Wänden der Schlucht widerhallte. »Ich bin der heilige Mann!«
    Grazia hörte, wie sich etwas im Palast des Meya regte. Eine Gestalt erschien über einer Terrassenbrüstung im ersten Stock, gewandet in Gelb. Der gewölbte Leib war im Schein einer Lampe deutlich zu erkennen.
    »Fidya?«, flüsterte Grazia. Konnte es wirklich das Vögelchen sein? Mit diesem Bauch? »Fidya!«, schrie sie und winkte. »Ich bin es, Grazia! Wir müssen zum König.«
    »Grazia?« Die Nebenfrau des Meya beugte sich über die Brüstung, so weit es ihr möglich war. Die Geburt musste kurz bevorstehen. Es war viel Zeit vergangen. Zu viel Zeit.
    »Geht schon«, einer der Wächter winkte sie durch. »Bevor ihr beide Städte aufweckt.«
    Bruder Benedikt nahm Grazia an der Hand und hastete zwischen den argadischen Torpfeilern hindurch. »Gott möge mir verzeihen, dass ich mich selbst einen heiligen Mann genannt habe. Aber Not kennt kein Gebot. Jetzt muss ich es wohl noch einmal tun.«
    Sie hatten die Straße überquert und erreichten den Palasteingang. Auch hier standen zwei Wachen, und sie wirkten äußerst aufmerksam; das Geschrei auf der Brücke konnte
ihnen nicht entgangen sein. Doch bevor ein Wort gewechselt wurde, rief Fidya einen Befehl herunter. Die Männer hoben die Köpfe, nickten ihr zu und öffneten einen Torflügel.
    »Es ist geschafft.« Bruder Benedikt wischte sich mit einem Ärmel über die Stirn, als sie im Inneren waren. »Und nun?«
    Grazia musste stehen bleiben und sich sammeln. Wie gelangte sie von hier aus zu Fidyas Gemach? Aber da kam ihr schon eine Sklavin entgegengelaufen, eine Fackel in der Hand. Sie folgten ihr durch verlassene Gänge und eine Treppe hinauf, wo Fidya bereits vor der Tür ihrer Gemächer wartete. Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf Grazia zu und umarmte sie, so gut es mit ihrer Körperfülle ging.
    »Wie lange war ich fort?«, fragte Grazia, ohne sich mit der Begrüßung aufzuhalten.
    »Du bist einfach weggelaufen, das war dumm. Nun, wann war das? Vor vier Monaten, glaube ich.«
    Vier Monate! Grazia warf einen verzweifelten Blick zu Bruder Benedikt, aber der hob nur die Schultern.
    »Wir mussten damit rechnen.«
    »Und wenn wir zurückkehren und erneut reisen?« Noch während sie sprach, merkte sie, wie unsinnig das war. »Vielleicht kommen wir zu einer früheren Zeit wieder heraus?«
    Mahnend hob er den Zeigefinger. »Ja, dann aber in Teufels Küche. Vor solchen Experimenten sollten wir uns hüten. Mag sein, dass wir früher hier wären, nur wo? So ein unverschämtes Glück haben wir womöglich kein zweites Mal. Und der Standort des Tores ist ja auch nicht gerade um die Ecke. Lassen Sie es gut sein, Fräulein Grazia.«
    Sie bemerkte Fidyas verständnislosen Blick, denn sie hatten Deutsch gesprochen. »Ach, Fidya«, sagte Grazia auf Argadisch. »Es tut mir leid, dass wir einfach so hereinplatzen. Aber es ist wichtig. Ich muss den Meya sprechen. Ist er noch wach? Weißt du, was mit Anschar ist?«

    »Anschar? Ich … ah … warte, ich hole ihn. Madyur, meine ich natürlich. Er wird dich sicher sofort sehen wollen.«
    »Strengt es dich auch nicht an?«
    »Nur ein bisschen.« Fidya drückte ihre Hände und lächelte inniglich, anders als sonst, mütterlicher und ein wenig reifer. »Du wirst dich sicher deiner nassen Kleider entledigen wollen. Brauchst du irgendetwas? Leider ist gerade kein Wasser in meinem Becken, ich müsste erst nach den Sklaven … Oh, ich vergaß, du brauchst ja niemanden, der dir Wasser holt. Drinnen auf dem Tisch ist etwas zu essen. Ich bin bald wieder zurück.«
    »Danke«, flüsterte Grazia, aber da hatte die Nebenfrau des Königs die Tür bereits einladend geöffnet und sich auf den Weg zum Meya begeben, so rasch es ihr Zustand zuließ. Sie derart verändert zu sehen, war für Grazia nach wie vor unfassbar.
    »Sehr glücklich über unser Erscheinen wirkte die Dame nicht«, meinte Bruder Benedikt, nachdem sie Fidyas Salon betreten hatten. Er beäugte, was im Schein einer Öllampe auf dem Tisch stand: Schalen mit den Resten irgendeiner Pastete, Öl und Brotstückchen. Er hielt einen bronzenen Kelch an die Nase, nickte zufrieden und nippte daran. »Ich glaube, für die nächste halbe Stunde ist dieser Tisch der meinige. Fräulein Grazia, das Bad gehört Ihnen. Ich werde nicht stören.«
    Als

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