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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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mit jemandem. Seine Stimme war dunkel und drohend. Sie begriff, dass es ein Ablenkungsmanöver war. Die beiden Eindringlinge zerrten sie auf die Füße zur rückwärtigen Zeltwand, wo ein Riss klaffte. Grob wurde sie niedergedrückt, damit sie hindurchkroch. Sie wollte es nicht, aber ehe sie es sich versah, war sie draußen und landete bäuchlings auf einer sehnigen Schulter. Dann wurde es dunkel um sie herum. Sie sah die Lichter der Fackeln kleiner werden und hinter Gestrüpp verschwinden. Die Stimme des Wächters wurde schwächer und verklang. Was blieb, waren das Keuchen des Mannes unter ihr und ihr eigenes Wimmern. Zweige streiften ihre bloßen Waden. Die Finger ihres Entführers bohrten sich schmerzhaft in ihre Oberschenkel. Was hatte er vor? War seinen Worten zu trauen? Wem diente er überhaupt? Wüstenmänner dienten immer jemandem. Es sei denn, sie waren geflohen. Gesetzlose. Sildyu hatte sie erwähnt: Räuber, die Reisenden auflauerten und sie um ihr Geld brachten. Vielleicht wollten sie ja Lösegeld erpressen. Nur von wem? Warum raubten sie ausgerechnet sie?
    Sie wurde im Schatten aufragender Kuppelgräber abgesetzt, doch nur, um auf einen Pferderücken gehoben zu werden. Die Furcht wich der Benommenheit, als ihre Entführer durch die Nacht ritten. Grazia kämpfte darum, sich nicht zu übergeben. Irgendwo hinter sich vermeinte sie Schwertergeklirr zu hören. Und eine Stimme, die sich über die der Wächter erhob. Eine Stimme, die etwas in ihr anrührte, eine tiefe Sehnsucht. Eine Stimme, die zu hören nicht wahr sein konnte. Sie täuschte sich. Sie musste sich täuschen!

7

    I hr Gesicht war nass geweint vor Furcht und Verzweiflung. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie schrie in den Knebel, als sie vom Pferd gehoben wurde. Erst dann wurde sie gewahr, dass die Pferde standen. Sie strampelte im Griff des Mannes, der sie losließ, und setzte sich unfreiwillig auf den Hintern. Wurzeln drückten in ihren Rücken. Auch der andere war abgestiegen und beugte sich über sie. Gemeinsam lösten sie die Fesseln und zogen ihr die nassen Stoffstreifen aus dem Mund. Grazia hustete und rang keuchend nach Luft.
    »Du hast bestimmt Durst.« Ein Lederbalg wurde ihr an die Lippen gehalten. Sie schlug ihn beiseite, warf sich herum und versuchte wegzukriechen, über hochstehende Wurzeln, bemooste Steine und Laubhaufen hinweg. Sie war in einem Wald. Über ihr kreischten Vögel, hinter ihr fluchten die Männer. Eine Hand packte sie am Fußgelenk. Grazia ließ sich fallen und trat nach hinten aus, während sie sich an einer Wurzel festklammerte. Es war hoffnungslos, der Mann zog sie zurück und drehte sie um. Das zerfurchte Gesicht, dessen Alter undeutbar war, wirkte gar nicht so feindselig. Eher so, als sei er selbst verwirrt. Sie bemerkte, dass er statt eines Sklavenohrrings nur ein Loch im Ohrläppchen hatte.
    »Wo bleibt er nur?«, hörte sie den anderen sagen, der bei den Pferden stand. »Er war dicht hinter uns.«
    »Ich bin hier«, kam die Antwort. »Lasst uns allein.«
    O Gott, dachte sie, diese Stimme. Sie gehört wirklich ihm.
    Nein!, wollte sie aufbegehren, um nicht einer grausamen
Täuschung zu erliegen, die sogleich zerstob, wenn sie ihn sah. Er war es nicht, er konnte es nicht sein.
    Die beiden Wüstenmänner zogen sich zurück. Warum nur war es hell geworden? Längst war die Nacht dem Tag gewichen. Düster war es noch, aber sie konnte alles erkennen. Konnte sehen, wie er herantrat, sich über ihr aufbaute und auf sie herabstarrte. Ungläubig wanderte ihr Blick über seinen Körper, von seinen harten Augen bis hinunter zu den nackten Unterschenkeln, wo die aufgekratzten Stellen schimmernden Narben gewichen waren. Sie hatte sich nicht getäuscht. Er war es.
    Sie wollte sich aufsetzen, aber ihr ganzer Körper war bleischwer. Schmerzhaft drückten sich die Wurzeln in ihren Rücken. Als er sich an ihrer Seite hinkniete, zuckte sie zusammen. Und als er sich über sie beugte, glaubte sie sich einer Ohnmacht nahe. Das geschah nicht wirklich. Dieser Mann war nicht der, den sie zurückgelassen hatte. Er trug dieselbe Kleidung – das schwarze ärmellose Hemd, den schwarzen Wickelrock, beides jedoch mit ausgefransten Säumen, rissig und schmutzig. Seine Haare waren zerzaust und nachlässig zu einem einzigen Zopf zusammengefügt, als halte er es der Mühe nicht für wert, sich mehrere kleine Zöpfe zu flechten, so wie er es früher getan hatte. Was für ein Leben war dies, dass es ihn so zugerichtet hatte? Woher rührte der kalte

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