Das gläserne Tor
anders; prüfend wanderten seine Finger über ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Hände.
»Trotzdem bin ich ein wenig enttäuscht«, raunte er ihr zu, immer noch etwas benommen. »Ich dachte, das Buch sei etwas Besonderes. Stattdessen kann man es wegwerfen und sich einfach ein anderes beschaffen. Wenn es doch so viele davon gibt?«
»Nein.« Ihr Lachen klang albern, so erleichtert war sie. »Glaub mir, auch bei uns ist ein Buch etwas Besonderes. Außerdem gibt es einen Unterschied. Sieh her.« Sie nahm das Buch, schlug die erste Seite auf und zeigte ihm die Widmung.
Er nahm es ihr aus der Hand. »Ja, das war in dem anderen nicht.«
»Mein Vater hat das geschrieben. Für dich. Es heißt: Möge der unbekannte Freund meiner Tochter darin Trost und Gottes Segen finden. Dies wünscht mit herzlichen Grüßen Carl Philipp Zimmermann .«
Sie gab es noch einmal auf Argadisch wieder. Darauf vermochte er lange nichts zu sagen. Es freute sie unbändig, dass er gerührt war. Nach endlosen Minuten legte er das Buch wieder hin. »Ich nehme an, das gibt es nicht auch Tausende Male.«
»Nein, nur einmal.«
»Dein Vater scheint ein großherziger Mensch zu sein.«
»Das ist er. Und ich vermisse ihn jetzt schon.«
»Grazia …«, er strich ihr über die Wange. »Es tut mir leid, dass ich dir Gewalt angetan habe. Das hätte nie passieren dürfen. Ich bringe dich wieder zurück.«
»Zurück?«, rief sie. »Anschar! Sie werden dich töten! Du hast mit Buyudrar gekämpft, oder? Lebt er noch?«
»Natürlich, er ist viel zu stark, als dass er sich einfach besiegen ließe. Ich habe ihn nur abgelenkt.«
»Ich will nicht, dass ihr noch einmal aufeinandertrefft. Lass es gut sein. Ich bin jetzt hier. Und ich wollte zu dir! Alles habe ich dafür stehen und liegen lassen. Sogar mit Friedrich habe ich mich überworfen.« Sie barg das Gesicht in den Händen. Er durfte sie nicht wegschicken, eine zweite Trennung würde sie nicht ertragen. Die Anspannung der letzten Tage, die Verzweiflung, die umsonst gelebte Trauer, all das brach aus ihr heraus, und sie weinte in seinen Armen, bis sie vor Erschöpfung in sich zusammensank.
Sie fühlte sich von Anschar hochgehoben und sanft auf die Füße gestellt. Inzwischen spürte sie die Kälte des Waldbodens, der ihre Glieder durchdrungen hatte.
»Gegen deinen Willen tue ich es nicht.« Fest hielt er sie im Arm und strich ihr über den Rücken. »Erst einmal kommst du mit. Dann sehen wir weiter.«
Zitternd ließ sie sich zu den Pferden führen. Er winkte die beiden Wüstenmänner heran, die irgendwo am Rand der Lichtung gewartet hatten. Grazia bemerkte, dass sie nicht weniger zerlumpt waren, dennoch wirkten sie nicht länger bedrohlich. Sie halfen ihr auf eines der Pferde. Anschar schwang sich hinter sie und legte einen Arm um ihre Taille, während er die Zügel ergriff. Auch die Wüstenmänner stiegen etwas unbeholfen auf ihre Pferde. Mittlerweile war es so hell geworden, dass der Wald ein wenig seine Bedrohlichkeit verlor. Irgendwo zwischen den Zedern begann ein schmaler Pfad, den die Männer einschlugen. Wohin mochte der Ritt gehen?
»Meine Sachen«, rief sie. Wo war ihr Koffer? »Der schwarze Lederkasten – wo ist er?«
»Hängt hier am Sattel«, erwiderte Anschar. »Ich weiß doch, du hättest mich zurück ins Lager geschickt, täte er es nicht.«
Grazia musste lächeln. Sie legte die Hände auf Anschars Finger auf ihrem Bauch. Die Kälte wich.
Stunde um Stunde verstrich. Obwohl sie sich in einem dichten Wald befanden, fühlte sich Grazia an den Weg durch die Wüste erinnert. Auch damals war Anschar so heruntergekommen gewesen – und so schweigsam, als bedrücke es ihn, das Ziel zu erreichen. Seine Berührungen waren umso beredter. Er drückte sie an sich, sodass sie seinen harten Brustkorb an den Schulterblättern spürte, und seine Hand glitt über ihren Bauch, wie um sich davon zu überzeugen, dass sie wirklich da war. Manchmal umfasste er sie mit beiden Händen. Sein Atem strich dann über ihre Wange, und sie legte den Nacken an seine Schulter. Die Wipfel riesiger Nadelbäume ragten über ihnen auf. Wie Libanonzedern sahen sie aus, mit unregelmäßigem Wuchs und breiten Kronen. Dazwischen karstige Felsen, an deren Hängen das allgegenwärtige zähe Gras wuchs. Schwarze Vögel, Krähen ähnlich, hockten darauf. Ein kleiner Wasserfall entsprang den Felsen und verlor sich zwischen den Bäumen. Hier war von der Trockenheit im Süden des Hochlandes wenig zu sehen. Es mochte täuschen; in
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