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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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wenigen Jahren würde das Land hier vielleicht ebenso gezeichnet sein. Aber noch war der Wald von fruchtbarer Schönheit. Nur wie konnten Menschen, die heißen Sand unter den Füßen gewohnt waren, hier leben? Wie konnte überhaupt jemand dauerhaft hier leben?

    Das Gelände stieg sanft bergan, und in der Ferne sah sie die Hänge des Hyregor in der Sonne leuchten. Unruhig rutschte Grazia im Sattel hin und her, da ihr das Gesäß schmerzte. Ab und zu richtete Anschar das Wort an die Männer, die vorausritten. Kein sehr freundliches zumeist, und sie gaben es ebenso unfreundlich zurück. Ernst klang es nie, doch deutlich war seine Verbitterung herauszuhören. Grazia wusste ja, wie wenig er die Wüstenmenschen mochte, deren ständige Gegenwart er jetzt teilte.
    »Wir sind da«, sagte der Mann, den er Oream nannte. Zunächst sah sie nur eine Wand von dicht beieinanderstehenden Zedern. Eine Frau kam zwischen den Stämmen hervor. Oream sprang vom Pferd und nahm sie in die Arme. Weitere Menschen tauchten auf. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder. Eine große Lichtung tat sich vor Grazia auf. Es war, als hätte man das Nomadendorf der Wüste hierher versetzt. Zelte, mit roten Quasten geschmückt, umstanden eine Art Dorfplatz mit einer Kochstelle, die von Frauen umringt wurde. Sie alle legten ihre Arbeiten nieder und standen auf.
    Anschar sprang ab und hob Grazia vom Pferd. Er blieb dicht neben ihr stehen, was sie ein wenig beruhigte. Die Blicke der Leute waren nicht feindselig, aber verschlossen. Als eines der Kinder auf sie zulaufen wollte, wurde es von einer Frau zurückgehalten.
    »Sie ist krank«, zischte eine andere. »Er hat eine kranke Frau mitgebracht.«
    Anschar legte den Arm um Grazias Schulter und betrat mit ihr die Lichtung. Dann streckte er eine Hand aus und winkte die Frau, die das gesagt hatte, herbei. Sie gehorchte auch, aber mit sichtlichem Widerwillen. Er packte sie am Handgelenk und zog sie näher.
    »Sieh sie dir an! Sie ist nicht krank.«

    Die Frau war nur eine Armlänge entfernt. Sie zitterte, nickte heftig und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. Endlich spreizte er die Finger, und sie stolperte davon. Grazia senkte die Lider, denn sein Verhalten beschämte sie. Entschlossen hob sie den Kopf. »Das war alles nicht so geplant«, sprudelte es aus ihr heraus. »Eigentlich wollte ich nach Osten, aber dann kam Anschar und … Es tut mir leid, wenn ich euch ängstige, aber ich bin harmlos, wirklich. Ich will euch nichts Böses.«
    »Erkennt ihr denn nicht, wer sie ist?« Ein alter Mann erhob sich von einem umgestürzten Baumstamm und kam, auf einen Stock gestützt, auf sie zu. Freundlich nickte er, dann wandte er sich zu den Menschen um. »Die Frau mit dem Feuer im Haar. Er hat sie oft genug erwähnt.«
    »Hast du das?«, flüsterte Grazia zu Anschar.
    »Ja, ab und zu. Wie hätte ich es nicht tun sollen, selbst ihnen gegenüber? Aber sie sind eben dumm.«
    »Warum bist du hier?«, fragte der Alte, und dann, zu Anschar gewandt: »Wolltest du für dein geraubtes Geld nicht anderes holen? Was war das noch? Hauptsächlich Getreide und neue Werkzeuge, wenn ich mich nicht irre.«
    »Mach mir keine Vorhaltungen, Jernamach. Ohne mich würdet ihr heute noch Käfer aus den Baumrinden kratzen.«
    Der alte Mann hatte es gar nicht vorwurfsvoll geäußert, aber er widersprach nicht. Stattdessen lächelte er in sich hinein, als habe er sich längst an diesen Ton gewöhnt. »Wirst du es mir gestatten, der Frau etwas zu trinken anzubieten?« Er machte eine einladende Geste auf den Baumstamm zu, der offenbar sein bevorzugter Aufenthaltsort war. Grazia folgte ihm, ohne darauf zu warten, ob Anschar Einwände erhob. Jernamach erinnerte sie an Tuhram, den Sippenältesten aus der Wüste: genauso zerfurcht und mit Haaren, die man zählen konnte. Im Nachhinein war sie froh über die Zeit, die sie
unter Wüstenmenschen verbracht hatte, andernfalls hätte die ungewohnte Situation sie sehr geängstigt. Der Baum erwies sich als recht bequem. Der Alte ließ sich in gebührendem Abstand neben ihr nieder und winkte ein Mädchen herzu, das sich beeilte, etwas aus einem groben tönernen Krug in einen ebenso grob gearbeiteten Becher zu gießen und es ihr zu bringen. Überrascht stellte Grazia fest, dass es ein wohlschmeckend süßer Wein war. Der gehörte vermutlich auch zu den Sachen, die Anschar mit seinen Beutezügen bezahlt hatte. Er ließ sich zu ihrer anderen Seite nieder. Auch ihm brachte das Mädchen einen Becher,

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