Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
Blick? Ein Elend lag darin, dass ihr selbst innerlich kalt wurde. Das Elend eines Flüchtigen.
    »Warum bist du zurückgekommen?«, fragte er.
    Grazia bewegte die Lippen. Es kostete Kraft, auch nur einen Laut auszustoßen. »Ich … ich …«, würgte sie verzweifelt hervor. Mehr schaffte sie nicht.
    Er packte ihr Gesicht. Eine Geste, die sie ersehnt, erträumt hatte. Es fühlte sich nicht nach ihren Träumen an. Eher, als wolle er sie untersuchen. Fast schmerzhaft bohrte sich sein
Blick in sie, sodass sie die Augen schließen musste. »Anschar«, flüsterte sie. Jetzt, da sie nur Schwärze sah, fiel es leichter zu sprechen. »Bruder Benedikt kam zu mir nach Hause, um zu sagen, dass du verhaftet worden warst. Da bin ich zurückgekommen, aber die Zeitabweichung … Du erinnerst dich an die Zeitabweichungen?«
    »Ja«, sagte er widerwillig.
    »Ich kam erst jetzt. Und da hieß es, du seist tot. Hingerichtet. Von Mallayur.«
    Etwas tropfte auf ihre Wange. Sie öffnete die Augen, und da schwebte sein Gesicht dicht über ihr. Dieselbe Verzweiflung, die sie empfand, war darin zu sehen. Zaghaft hob sie eine Hand, um seine Tränen abzuwischen, wie er es bei ihr immer getan hatte, doch sie wagte es nicht. Plötzlich ließ er sie los, stemmte sich hoch und ging zu den Pferden. Aus einer Tasche am Sattel holte er etwas, das er ihr auf den Bauch legte. Seine Augen schienen in Flammen zu stehen, als er wieder neben ihr kauerte. Ihr wurde angst und bange zumute, denn so hatte er sie noch nie angesehen. Oder selten – als sie nach dem Zweikampf zu ihm gekommen war, ja, daran erinnerte sie sich.
    »Bist du wirklich meinetwegen gekommen?«, fragte er.
    »Anschar, bitte …«, sie drückte das Buch an sich. »Was ist nur? Was ist mit dem Buch? Ich habe es mitgebracht, um dir eine Freude zu machen.«
    »Von wo mitgebracht?« Wieder beugte er sich über sie. »Das Buch war in Mallayurs Händen. Er hatte es ins Feuer gesteckt, mitsamt dem Bild. Das jedenfalls dachte ich bis vorhin.«
    Glaubte er am Ende, sie sei bei Mallayur gewesen und habe von ihm das Buch zurückgeschenkt bekommen? Wie konnte er das auch nur für eine Sekunde erwägen? Sie wollte aufbegehren, ihn fragen, wie er darauf kam, doch jäh begriff
sie. Wäre er nicht so zornig, hätte sie vor Erleichterung aufgelacht. »Das ist ein gewaltiges Missverständnis. Das Buch habe ich von daheim mitgebracht.«
    »Belüge mich nicht, das ertrage ich nicht auch noch.«
    »Ich sage die Wahrheit!« Sie wollte ihn schütteln, ihn am liebsten ohrfeigen, damit er das dumme Misstrauen fortwarf. »Du weißt doch, in meiner Welt gibt es Techniken, die dir gänzlich fremd sind. Es ist …«
    »Ihr könnt Sachen, die verbrannt sind, wiederherstellen? Aber auch dann muss er dir die Asche gegeben haben.« Beharrlich schüttelte er den Kopf. Fast schien es ihr, als verweigere er sich allein deshalb, weil er Angst hatte, sie könne sich doch noch als Trugbild erweisen. Es war dieselbe Angst, die auch sie plagte.
    »So hör doch zu! Es ist nicht dasselbe Buch. Die Technik besteht darin, es in großen Mengen herzustellen.« Sie setzte sich auf. Es tat weh zu sehen, wie er vor ihr zurückwich. »Von diesem Buch gibt es Tausende. Es ist ein anderes, und ich war selbstverständlich nicht bei Mallayur.«
    Er kämpfte mit sich. Endlich wagte sie es, ihm die Tränen abzuwischen.
    »Deshalb hast du mich entführt?«, fragte sie. »Aber du konntest gar nicht wissen, dass ich es habe. Woher hast du gewusst, dass ich in diesem Zelt bin?«
    »Ich habe es nur vermutet. Ich wollte wissen, was dich zurückgeführt hat, und dir sagen, dass ich noch lebe. Es war nicht meine Absicht, dich zu entführen. Das verdammte Buch hat mich kopflos werden lassen.« Er legte die Hand auf den Einband und schüttelte den Kopf. »Tausende. Und es ist kein Unterschied zu sehen«, murmelte er. »Allmählich begreife ich, warum du solche Bedenken hattest, mich in deine Welt mitzunehmen. Verzeih mir. Du bei Mallayur – ich konnte es nicht glauben. Aber es gab für mich keine andere Erklärung.«

    Vor Erleichterung hätte sie heulen mögen. Sie tastete sich seine Schulter hinauf, und da nahm er sie in die Arme. Endlich wusste sie, dass sie keiner Täuschung unterlag. Derselbe Druck seiner Hände, derselbe Körper. Dieselben Lippen, die zittrig über ihre Haut wischten und ihren Mund suchten. Befreit aufatmend erwiderte sie den Kuss. Mehr, dachte sie, mehr. Sie wollte es genau wissen, wollte wissen, dass er lebte. Ihm erging es nicht

Weitere Kostenlose Bücher