Das gläserne Tor
Hilfe.«
»Ich frage mich auch, wieso wir nicht von dir lassen können«, brummte Parrad. »Bis Mittag könnte ich zurück in meiner Hütte sein.«
»Was du dein Heim nennst, ist auch nicht besser, als irgendwo unter einem Gebüsch zu schlafen.«
»Mein Heim? Das habe ich nie gesagt! Mein Heim ist ein Zelt in der Wüste, mit drei Frauen und achtzehn Kindern darin, das weißt du doch.«
»Dann hör auf, so zu tun, als sei dieses Dreckloch im Wald ein Ersatz.«
»Müsst ihr immer darüber streiten?«, fuhr Oream dazwischen. »Kein Mann der Wüste kann glücklich im Wald sein! Aber es ist besser, als zu sterben.«
»Und warum seid ihr mir dann gefolgt? Was, glaubst du, passiert mit uns in Argadye?«
»Nicht einmal du stirbst freiwillig«, sagte Parrad.
»Sei dir nicht so sicher.«
Darauf sagte niemand mehr etwas. Anschar wusste selbst nicht, ob ihm die Begleitung der beiden Wüstenmänner recht war. Er hätte sie wegschicken können, doch er hatte es hingenommen, als sie ihm aus dem Wald heraus gefolgt waren. Jetzt war es zu spät. Aber da sie diese Handelsreisenden weitläufig umgehen würden, war es nicht wahrscheinlich, auf Leute zu stoßen, die allzu eifrig auf vermeintliche Sklaven achteten. Die Stadttore von Argadye waren des Nachts offen; drei Reiter, die sich die Kapuzen ihrer Mäntel ins Gesicht zogen, fielen nicht weiter auf. In der Stadt würde er dafür sorgen, dass Oream und Parrad sich nicht mit ihm in Gefahr begäben. Er würde sie abhängen, bevor er über die Brücke nach Heria ging. Und dann? Was tue ich dann?, fragte er sich. Zu Schelgiur hinuntersteigen? Nachdem es die Geschichte von dem Licht bis in ein Dorf am Waldrand geschafft hatte, würde der beste Wirt der schwebenden Stadt erst recht darüber Bescheid wissen.
Die Lichtpunkte des Lagers erwiesen sich beim Näherkommen als Fackeln, deren Ständer man in die harte Erde gehauen hatte. Anschar lenkte sein Pferd über den kaum weniger harten Ackerboden, um das Lager weiträumig zu umgehen. Im Licht der Monde waren er und seine Begleiter gut zu erkennen, aber so lange sie sich unauffällig verhielten, würde kein Wächter beunruhigt sein. Ein ganzes Stück weiter voraus war eine Ansammlung von Kuppelgräbern, spätestens in ihrem Schatten wären sie sicher. Er erkannte ein großes Zelt, davor und dahinter kleinere für die Eskorte. Einige Männer waren damit beschäftigt, die Pferde zu füttern und ein Lagerfeuer anzuzünden; zwei weitere schlenderten um
das große Zelt, die Speere auf den Schultern. Ein Sturhorn kniete am Ende des Trosses, den massigen Kopf auf der Erde, und prustete im Schlaf. Schwarz bestickte Bänder wehten im Nachtwind von den Zeltstangen. Selbst auf die Entfernung hin war auf ihnen das Zeichen des Schamindar zu erkennen. Wen immer das Zelt beherbergte, er reiste im Schutz des Meya.
»Es sind Argaden, oder?«, fragte Oream.
»Ja.«
»Da ist einer, der hat etwas am Arm, so wie du.«
»Was sagst du da?« Anschar hatte das Lager nicht weiter beachtet, nachdem ihm klar geworden war, dass keine Gefahr drohte. Mit einem Ruck brachte er sein Pferd zum Stehen. »Wer?«
»Einer von denen, die das Zelt bewachen. Er hat einen Speer.«
Anschar sah ihn, aber nicht die Tätowierung, denn der Mann hatte ihnen seine linke Seite zugewandt. Er trug Schwarz, das war unschwer zu erkennen. Schwarze Kleidung, wie jeder der Zehn. Er stand am Eingang, stützte sich auf seinen Speer und war in ein Gespräch mit einem anderen vertieft. Dabei blickte er immer wieder auf die Ebene hinaus.
»Wir müssen weiter.« Unwillkürlich glättete Anschar den Ärmel seines Mantels. »Sonst werden sie misstrauisch. Du bist dir sicher?«
»Ziemlich sicher. So genau habe ich nun auch nicht hingesehen, aber ich dachte sofort, he, das sieht aus wie bei dir. Was bedeutet das nun? Du hast es nie erklärt, aber irgendeiner aus dem Dorf meinte, damit zeichne man besondere Krieger aus. Zehn solche Krieger soll es geben.«
»Wenn sich in der Zwischenzeit nichts daran geändert hat, gibt es nur drei, mich eingeschlossen.« Falls Oream sich nicht getäuscht hatte, standen dort vor dem Zelt entweder
Schemgad oder Buyudrar. Vielleicht waren sogar beide im Tross. Den König bewachten sie nicht, denn dann wäre das Lager zehnmal so groß. Anschar merkte kaum, wie das Pferd ihn weitertrug und sich vor ihm die ersten Grabkuppeln wie weiße, spitz zugehauene Felsen aus der Nacht schälten. Ein Verdacht keimte in ihm, so schrecklich wie berauschend. Seine Gedanken
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