Das gläserne Tor
auf der anderen Seite des Zeltes hin und her schlenderte. Er wartete, ob der Wächter wiederkehrte, und als das nicht geschah, ging er auf die Knie und hob die Zeltplane einen Spalt weit an. Licht schimmerte im Innern, von einem Lämpchen geworfen, das auf einem bronzenen Dreibein stand. Nichts war zu hören, bis auf den regelmäßigen tiefen Atem eines Schlafenden. Grazia? War sie es? Er musste sich zwingen, mit Bedacht vorzugehen, statt in das Zelt zu stürmen. Langsam schnitt er die Plane ein
Stück auf. Die scharfe Klinge verursachte fast kein Geräusch, dennoch hielt er immer wieder inne, um zu lauschen. Wer da im Zelt war, wurde nicht wach, und auch der Posten auf der anderen Seite verhielt sich ruhig. Schließlich steckte Anschar die Klinge zurück und kroch ins Zelt.
Er sah sie sofort. Sie lag auf einer mit Fellen üppig belegten Pritsche, die Arme um eine Wolldecke gelegt. Ihr lockiges Haar, zu einem dicken Zopf zusammengefasst, fiel auf ihre Brust. Deutlich konnte er sehen, wie sich ihre Brüste unter dem Stoff abzeichneten und hoben und senkten. Sein Mund stand schon offen, um ihren Namen auszusprechen, seine Hände lösten sich vom Boden, um auf sie zuzustürzen und sie in die Arme zu reißen. Aber so planlos durfte er nicht vorgehen, so sehr es ihn auch danach drängte. Er kauerte an der Zeltwand, eine Hand auf dem Knie, und sah sich um. Der Raum war groß, viel befand sich jedoch nicht darin. Vor der Pritsche lag ein lederner Kasten mit metallenen Beschlägen. Aus seinem Inneren quollen Stoffe. Auf der anderen Seite konnte Anschar den Schatten des Wächters über die Plane wandern sehen, der hierhin und dorthin ein paar Schritte machte, eine Hand an den Mund hob und vernehmlich gähnte. Von Sklavinnen war nichts zu sehen; Grazia hatte es nie gemocht, von Unfreien bedient zu werden. Er schlich auf die Pritsche zu und richtete sich auf.
Nun, da er sie wieder sah, kamen ihm die letzten vier Monate wie ein unüberwindliches Gebirge vor, das er irgendwie überstiegen hatte, ohne zu wissen, wie es eigentlich zu schaffen gewesen war. In ihren Augenwinkeln klebten Reste blauer Farbe. Hatte sie um ihn geweint? Sachte berührte er den Zopf. Ihr Haar fühlte sich an wie zuvor, anders als jedes andere Haar. Er betrachtete ihre Hautflecken, die ihr Gesicht bis in jeden Winkel durchzogen. Die hellen, schimmernden Wimpern, kaum zu erkennen im schwachen Schein der
Lampe. Die vollen Lippen, aus denen Feuchtigkeit ins Kissen sickerte. Seine Hand schwebte über ihrem Gesicht, während er mit dem Daumen einen Tropfen auffing, unendlich vorsichtig, um sie nicht zu wecken. Er musste sie aus dem Schlaf holen, ohne dass sie einen überraschten Laut von sich gab. Er machte sich bereit, die Hand auf ihren Mund zu pressen.
Fast hätte er es getan. Neben ihrem Kopf lag etwas, das er kannte. Etwas, das nicht hier sein durfte. Das Buch.
Zögerlich streckte er die Hand danach aus. Das Buch existierte nicht mehr. Mallayur hatte es verbrannt, vor seinen Augen. Es konnte nur ein Trugbild sein. Mit einem entschlossenen Knurren griff er danach und stellte fest, dass es sich auch so anfühlte wie zuvor. Er klappte es auf, und wie er es erwartet hatte, fand sich das Bild ihrer Familie darin. Es hatte sich verändert, und die Blätter des Buches waren nicht mehr wellig, aber sonst war kein Unterschied zu sehen. Nein, dies war kein Trugbild. Dies war sein Buch.
Anschar legte es zurück. So lautlos wie er eingedrungen war, verließ er das Zelt.
Es geschah so schnell, dass Grazia nicht auf den Gedanken kam, sich zu wehren. Jemand drückte eine Hand auf ihren Mund. Ein Gesicht tauchte vor ihr auf, zerfurcht, ledrig, dunkel getönt. Ein Wüstenmann. Ein anderer fesselte ihre Handgelenke. Wer sie auch waren und warum sie das taten, es war unnötig, denn ihre Glieder fühlten sich an wie aus Grütze. Beinahe hätte sie ihr Unterzeug nass gemacht, so sehr war ihr der Schreck durch den Körper gefahren. Sie rang nach Luft, als die Hand weggenommen wurde, doch nur kurz, dann wurde ein Stoffknäuel in ihren Mund gestopft und mit Stoffstreifen fixiert, die rau und schmutzig waren. Sie schüttelte den Kopf, um die Fesseln loszuwerden, und würgte und hustete hinein.
»Dir geschieht nichts«, flüsterte der Wüstenmann. »Wenn du nur stillhältst.«
Grazia versuchte es, aber sie bebte am ganzen Leib. Wo waren die Wachen? Einen sah sie vor dem Zelt stehen; sein Schatten fiel auf die Plane. Aber er hatte sich einige Schritte entfernt und sprach
Weitere Kostenlose Bücher