Das gläserne Tor
überschlugen sich. Konnte es wahr sein? Was, wenn tatsächlich Grazia in jenem Zelt war? Dann entfernte er sich von ihr mit jedem weiteren Schritt.
Es ist der Weg zurück zum Tor, erkannte er. Sie ist gekommen, um mich zu suchen. Aber sie konnte mich nicht finden, weil …
»Wartet!« Im Schutz einer der Kuppeln brachte er sein Pferd zum Stehen und sprang ab. Vielleicht war alles nur ein Hirngespinst. Aber er musste es nachprüfen. »Ich werde einen Blick in das Zelt werfen.«
Auf die unverständlichen Proteste seiner Begleiter achtete er nicht; er band die Zügel locker um den niedrigen Ast einer Kiefer, prüfte den Sitz des Messers im Rücken und den seines Schwertes. Parrad knurrte etwas Unverständliches in seinen Bart. Er stieg ab und stellte sich ihm in den Weg.
»Bist du wahnsinnig? Wir finden leichtere Opfer, die wir um ihre Geldbeutel erleichtern können.«
»Du sandfressender Hohlkopf! Mache ich den Eindruck, als ginge es mir um Geld? Glaubst du, ich sei deshalb nach Argadye aufgebrochen? Wenn sich diejenige, von der ich es vermute, in diesem Zelt aufhält, können wir uns den Rest des Weges sparen.«
»Eine Frau? Es geht dir um eine Frau? Und ich hatte immer den Eindruck, als würdest du sämtliche Bedürfnisse herunterschlucken oder was auch immer.«
Anschar zog das Schwert ein Stück heraus und stieß es wieder zurück. »Geh mir aus dem Weg, sonst bereue ich es, dich
nicht in den Werkstätten erwürgt zu haben, wo ich unendlich viele Gelegenheiten dazu hatte.«
»Das hier ist nicht gerade ein passender Ort, mein Leben zu bedrohen.«
»Ihr streitet ja schon wieder«, sagte Oream von seinem Pferd herab.
»Wenn er auch solche Dummheiten macht? Anschar, du kannst nicht …«
»Halt den Mund, Parrad, und lass mich gehen. Es dauert nicht lange. Wenn ihr merkt, dass es misslingt, versteckt euch einfach.«
»Es wird misslingen! Das Zelt ist viel zu gut bewacht. Du wirst einen riesigen Aufruhr verursachen. Ich sehe ihn schon vor mir.«
»Mag sein, aber jetzt seid leise. Unnötig heraufbeschwören müssen wir das ja nicht.«
Anschar machte sich auf den Rückweg. Hinter ihm stöhnten Parrad und Oream verhalten, aber sie enthielten sich weiterer Einwände und folgten ihm in die Wildnis. Ihr Nutzen war bei dieser Sache zweifelhaft, aber wenigstens setzten sie ihre Schritte so leise wie er. Als sie in die Nähe des Lagers kamen, entledigte er sich seines Mantels, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Im Schutz der Büsche kauerten sie auf der Erde. Auch hier, auf der dem Niemandsland zugewandten Seite des Zeltes, waren zwei Fackeln aufgestellt. Buyudrar schlenderte zwischen ihnen auf und ab. Er wirkte nicht sehr aufmerksam, aber das hatte bei einem der Zehn nichts zu bedeuten.
Es blieb vorerst nichts anderes zu tun, als unsichtbar auszuharren und die Lage zu beobachten. Nach einer elend langen Zeit machte Buyudrar einem anderen Wächter Platz. Anschar wartete, bis er sicher war, dass sein früherer Kamerad vorerst nicht zurückkehrte, und schlich sich an den Posten heran. Ihm blieb nur die Gelegenheit für einen einzigen gut platzierten
Hieb. Außerhalb des Fackelscheins kniete er geduckt am Boden, zog langsam sein Messer aus dem Gürtel und wartete, dass der Mann ihm den Rücken zukehrte. Dann sprang er ihn an und schlug den Griff des Messers gegen seine Schläfe. Zugleich presste er die Hand auf seinen Mund, um einen Schmerzenslaut zu unterdrücken. Als er ihn zu Boden gleiten lassen wollte, war Parrad herangekommen, ergriff die Füße und half ihm, den Bewusstlosen geräuschlos hinzulegen.
Ob er ihn lange genug in den Schlaf geschickt hatte, wusste er nicht. Die Spitze der Klinge drückte gegen die Kehle. Doch dann ließ er sie sinken, denn ungern hätte er einen Argaden getötet. Jetzt musste er schnell sein. Er trat zwischen die Fackeln.
»Buyudrar?« Der Posten, der auf der anderen Seite Wache hielt, war um die Ecke gekommen. »Mir war so, als hätte ich ein Geräusch gehört. Ist alles in Ordnung?«
»Ja.« Anschar hatte ihm seine rechte Seite zugewandt. Das Fackellicht streifte seinen Arm. Sollte dieses unbeabsichtigte Täuschungsmanöver gelingen, so hätte er damit vermutlich das Glück eines ganzen Lebens aufgebraucht. Er machte sich mit dem Gedanken vertraut, blitzschnell sein Schwert zu ziehen und den Wächter möglichst lautlos niederzumachen, sollte dieser sich nur einen weiteren Schritt nähern, doch der Mann nickte ihm zu und verschwand wieder um die Zeltecke.
Anschar hörte, wie er
Weitere Kostenlose Bücher