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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Verkohlte, stellenweise noch glimmende Balken, die in die Luft ragten, waren das letzte Überbleibsel der schwebenden Stadt. Eine Menschenansammlung stand an der Klippe und versuchte im Schein der Monde zu erkennen, was übrig war. Frauen mit dunkel bemalten Gesichtern lagen sich in den Armen und schrien ihre Klage hinaus.
    Er folgte der Umfassungsmauer des Palastes. Sie war doppelt mannshoch und aus glatten, gut verfugten Steinen errichtet. Ausgeschlossen, sie zu erklimmen. Er fand ein Seitenportal. Es war geschlossen. Ihm blieb nur ein Weg: die Zeder neben der Arena. Einen Baum zu erklettern, sollte nach den Monaten im Wald so einfach sein, als laufe man eine Treppe hoch.
    Kaum dass er sie erreicht hatte, sah er schon, dass ihre Äste nicht weit genug an die Mauer heranreichten. Er hatte
gehofft, über die Tribünen ins Gebäude zu gelangen. Im Schatten der Zeder blieb er stehen. Es gab keine Möglichkeit mehr. Sollte er die Nacht abwarten, um am Morgen durch das Tor zu gehen? Bis dahin konnte Schlimmes geschehen – allein der Gedanke, hier ausharren zu müssen, war absurd. Da fiel sein Blick auf eine schmale Pforte wenige Schritte entfernt. Er kannte sie nicht, aber wenn er sich nicht täuschte, führte sie in die Räume unterhalb der Tribünen.
    Er hämmerte mit der Faust dagegen.
    Lange Zeit tat sich nichts. Die Sorge um Grazia machte ihn wütend, und er malte sich aus, wie er die verdammte Tür einrannte. Da öffnete sie sich.
    »Ich hoffe, du hast einen Grund für den Lärm.« Ein Mann reckte mürrisch den Kopf vor. Sein mit Bronzeplättchen versehenes Hemd wies ihn als Palastwächter aus. Die Hand auf seinem Schwertgriff war unmissverständlich.
    Anschar wickelte die Binde von seiner Hand und schob den Ärmel zurück. Die Augen des Mannes weiteten sich.
    »Du … aber du bist tot!«
    »Sehe ich so aus?«
    Noch während er fragte, hieb er ihm den Ellbogen ins Gesicht. Knackend gab die Nase nach. Die Augen des Wächters brachen, und mit ungläubigem Stöhnen sackte er zusammen. Anschar schleppte ihn ins Innere, legte ihn in einer Ecke ab und schloss die Tür.
    Er hatte keine Ahnung, wohin Grazia gebracht worden war. Nur eines wusste er – wo der Gott war. Und er wusste auch den Weg dorthin. Das Kellergewölbe war nicht weit. Er hastete die Treppen hinunter, drückte sich in dunkle Ecken, wenn Sklaven vorüberkamen, und erreichte den Gang, der in das Gewölbe mündete. Diesmal lag es im Dunkeln. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich dort Licht zu holen, wo er wusste, dass es zu finden war, also machte er kehrt und
lief in den Sklaventrakt. Wie er dort hineingelangen wollte, ohne bemerkt zu werden, war ihm indes schleierhaft. Als er Schritte hörte, drückte er sich in den Eingang einer Seitenkammer. Ein alter Sklave schlurfte vorüber, wohl um seine Matratze aufzusuchen. Anschar atmete auf. Fast hätte er zu spät bemerkt, dass er mit dem Rücken die Tür hinter sich aufgedrückt hatte. Er drehte sich um und wollte sie schließen, da fiel sein Blick auf zwei nackte Hinterbacken, die sich auf eindeutige Weise bewegten. Von einem Gürtel hing eine Peitsche, die im Takt der Stöße mitschwang.
    Der Sklavenaufseher blickte ärgerlich über die Schulter. Als er Anschar sah, löste er sich von seinem Opfer und griff nach der Peitsche. Im nächsten Augenblick fiel sein Kopf von den Schultern und schlug auf dem steinernen Boden auf. Wenige Lidschläge später folgte sein Körper.
    Ein junger Mann stieß sich von dem Tisch ab, über den er sich hatte beugen müssen, und schlug den Rock herunter. Sein Leib erbebte vor Entsetzen, und er starrte auf das blutige Schwert in Anschars Hand. Er riss den Mund zu einem Schrei auf, doch dann blieb sein Blick an der kostbaren Aufmachung des Mantels hängen.
    »Herr, wer …«
    Anschar gebot ihm mit einer erhobenen Hand, leise zu sein. »Erkennst du mich nicht?«
    »A-Anschar?«
    »Ja.«
    »Aber …«
    »Ja, ich weiß, ich bin eigentlich tot. Egal. Bist du nicht der, dem schon Egnasch solche Abscheulichkeiten abgezwungen hatte? Was ist denn an dir, dass die Aufseher dich so begehren?«
    »Wenn ich das nur wüsste.«
    Anschar beugte sich über den Toten, wischte die Klinge
an dessen Rock ab und steckte sie zurück. »Da anscheinend immer ich derjenige bin, der deine Peiniger in die tiefste Tiefe der Unterwelt schickt – wirst du mir helfen und mich nicht verraten?«
    Der Junge biss sich auf die Unterlippe. Furcht lag in den großen Augen, aber auch unverhohlene Bewunderung.

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