Das gläserne Tor
Tätigkeit,
flüsterten leise miteinander und bemerkten ihn nicht, als er an der offenen Tür vorbeiging. In einer anderen Kammer greinte ein Kind. Er drückte sich in den Schatten eines Pfeilers und wartete, ob das Jammern die Frauen herausrief, doch das geschah nicht, und so ging er unbehelligt dorthin, wo er das vermutete, was Grazia einen Salon nannte. Hier, so hoffte er, fand er, was er suchte, und er wurde nicht enttäuscht. Im Schein des Lichtes, das sich aus einem Nebenraum über den Fliesenboden ergoss, raffte er ein rostrotes Kleidungsstück auf, das von einer Sessellehne gerutscht war, einen kostbar mit goldenen Fransen und grünlichen Edelsteinen verzierten Mantel. Das war genau das, was er brauchte. Mit einem solchen Mantel würden sich die Wachen dreimal überlegen, irgendein Misstrauen zu hegen. Er wollte sein Glück nicht herausfordern, also trat er geduckt den Rückzug an. Die Stimme des Händlers, die aus dem Nebengelass kam, das wohl sein Arbeitszimmer war, ließ ihn innehalten.
»Morgen früh lasse ich die Falltür aufbrechen. Kann ja wohl nicht sein, dass meine Schätze da unten im Fels bleiben.«
»Schelgiur hat sie doch bezahlt?«
»Sicher, sicher! Aber er ist tot, er hat nichts mehr davon. Ich schon.«
»Wir wissen doch gar nicht, ob er wirklich tot ist. Vielleicht hockt er ja verletzt in seiner Felsnische und wartet auf Rettung?«
Der Händler schnaubte. »Dann wird er ja froh und hoffentlich auch entsprechend dankbar sein, wenn wir ihm zu Hilfe eilen. Zerbrich du dir darüber nicht den Kopf!«
»Ja, Herr.«
Papier knisterte. Der Schatten des Händlers zog sich an der Wand in die Breite, während er sich zurücklehnte und die Hände vor dem Wanst verschränkte. »Was würde der verdammte Hund wohl dazu sagen, wenn er wüsste, dass er
es seinem König verdankt, seine schöne Hütte verloren zu haben?« Er strich sich über den Bart. Eine Geste, die höchst genießerisch wirkte.
»Seinem König?«
»Nun, würdest du sagen, ein Mann, der zur Palastwache gehört, hält eigenmächtig eine Fackel ans Dach der ersten Hütte? Ich habe es selbst beobachtet.«
»Nein, warum sollte er? Aber warum sollte der König … nein, das … niemals!«
»O doch. Was Mallayur davon hat, weiß ich nicht. Vielleicht hatte er Kopfschmerzen und konnte den Lärm nicht ertragen.«
Interessant, das zu wissen, dachte Anschar. Ein Verdacht keimte in ihm, der ihn nicht zweifeln ließ, dass wahrhaftig Mallayur die schwebende Stadt vernichtet hatte.
»Es ist natürlich ein Jammer«, redete der Händler weiter. »So viele Menschen sind in den Tod gestürzt. Aber wir wollen vorbereitet sein, denn die schwebende Stadt ist schneller wieder aufgebaut, als man Bier brauen kann, und daher sind Schelgiurs Vorräte jetzt Gold wert.«
Anschar hatte genug gehört. Er huschte gebückt zurück zum Fenster. Mit einem Satz war er auf der Gasse. Es brauchte einen Moment, bis sich seine Augen wieder an die Finsternis gewöhnt hatten.
»Grazia!«, zischte er. Sie war nicht da. Es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! Er lief tiefer in die Gasse hinein, bis zur nächsten Quergasse. Schwankend zwischen Furcht und Zorn über ihren Ungehorsam warf er sich den Mantel über und rannte zurück. Als er den Platz fast erreicht hatte, fand er in der Abflussrille sein Schwert.
Er hob es auf. Mit einem raschen Blick um die Hausecke sah er, dass am Tor, das noch offen war, nur ein Posten stand. Der andere hatte Grazia ergriffen, das war ihm so klar
wie … Kloßbrühe . Fast ohne es zu merken, zog er die Klinge ein Stück heraus. Alles in ihm drängte danach, zum Tor zu stürzen und sie mit Gewalt zu befreien. Aber das wäre ihrer beider sicherer Tod.
Er rückte den Schwertgürtel zurecht, sodass sich die Klinge nicht unter dem Mantel abzeichnete, warf sich die Kapuze über und betrat den Platz. Der Mantel war zu kurz, aber dafür weit. Scheinbar gemächlich schlenderte er auf das Tor zu. Wenn er die Hoffnung haben wollte, nicht angesprochen zu werden, musste er mit den letzten Menschen, die das Tor passierten, hindurch. Doch dann besann er sich anders. Es war zu gewagt. Der verbliebene Posten wirkte hellwach. Was immer vorgefallen war, hatte seine Aufmerksamkeit verdoppelt. Anschar machte einen Bogen, überquerte den Platz und ging an der Brücke vorbei in Richtung der Klippe. Niemand hielt ihn auf, niemand schien ihn zu erkennen. Übler Brandgestank drang ihm in die Nase. Dort, wo die Treppen begonnen hatten, war nichts mehr.
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