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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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hineinließen, größere Beachtung. Grazia blickte hinüber zur Brücke, wo die argadischen Wachtposten noch ein paar Leute hinüberließen, bevor sie ihre Speere für die Nacht kreuzten. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie nachher mit Anschar vor die Männer trat, bei sich einen Gott, der ihnen Durchlass verschaffte. Undenkbar. Sie wandte sich ab.
    Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Vor Schreck ließ sie das Schwert fallen. Bevor sie auch nur einen Schritt zurück in die Gasse tun konnte, wurde sie auf den Platz gezogen und herumgedreht. Einer der herschedischen Wächter stand vor ihr.
    »War mir doch so, als hätte ich eine verhüllte Gestalt aus dem Boden kriechen sehen«, sagte er, eher verwundert als misstrauisch. »Ich dachte, ich hätte mich getäuscht. Du warst das, oder?«
    »Nein«, sagte sie, innerlich erzitternd. Es kostete sie unendliche Mühe, ihre Stimme halbwegs fest klingen zu lassen. »Ich weiß nicht, wovon du redest. Ich krieche nicht in Kellern herum.«
    »Ist ja schon gut.« Er ließ sie los. Fast sah es so aus, als wolle er es dabei bewenden lassen, doch dann zupfte er nachdenklich an seinem Ziegenbart und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Du hast ein Wüstengewand an. Du bist eine Sklavin?«
    »J-ja. Genau. Ich bin …«
    Er griff nach dem Band und hob ihre Hand hoch. »Bist wohl frisch eingefangen worden, was?«
    »Das wollte ich gerade sagen.«
    »Wo ist dein Herr?«

    »A-austreten. Er soll mich in den Palast bringen.«
    »Und dann lässt er dich einfach hier unbeaufsichtigt stehen?«
    »Wo soll ich denn hin? Ich laufe bestimmt nicht weg.«
    Er grinste. »Um Antworten bist du nicht verlegen, aber irgendwie gefallen sie mir nicht. Im Gegensatz zu dir.« Beinahe sanft schob er ihr die Kapuze herunter. Sie tastete nach dem Kopftuch, ob es noch richtig saß. Doch auch das entfernte er, um mit kundigem Griff ihre Ohrläppchen zu prüfen. Seine Brauen schoben sich misstrauisch zusammen.
    »Komm mit.« An der Fessel zog er sie mit sich, hin zum Tor, wo er sie in den Lichtkegel drängte.
    »Was ist mit der?«, fragte der zweite Posten. »Ist doch nur eine Sklavin, oder nicht?«
    »Sieh dir die Haare an!«
    Grazia spürte, wie ihr Zopfband durchgeschnitten wurde. Hände wühlten ihre Haare auf.
    »Rot! Das ist die Wassernihaye!« Der Mann drehte sie an den Schultern zu sich herum. »Ist das so, Frau?«
    Was sollte sie jetzt sagen? Sie blickte zurück auf den Platz, suchte nach Anschar, doch er war nicht zu sehen.
    »Ich bin es«, sagte sie. »Und deshalb müsst ihr mich gehen lassen. Der Meya wartet auf mich.«
    »Ach, jetzt ist dein Herr der Meya? Das ist mir alles zu verworren. Ich bringe dich zu Mallayur.« Seine Finger krallten sich schmerzhaft in ihren Arm, als er sie mit sich in den Palasthof zog. Grazia riss sich los und wollte zurück auf den Platz rennen, aber nach wenigen Schritten hatte er sie eingeholt und packte sie an den Haaren. Sie versuchte sich von ihm wegzudrücken. Seine Hände waren wie Schraubstöcke, unbarmherzig zog er sie durchs Tor. Plötzlich würgte er, beugte sich vor und spie einen Schwall Wasser aus. Nach Atem ringend, richtete er sich auf. »Warst du das?«, schrie er
sie an und schlug ihr so fest ins Gesicht, dass Blitze vor ihren Augen tanzten. »Wage es nicht noch einmal, deine verfluchte Kraft an mir anzuwenden!«
    Er schlug ein zweites Mal zu. Sie begriff, dass er sich fürchtete, aber ihre Angst war viel größer. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen. Der dritte Schlag ließ sie taumeln, und sie sackte zu Füßen des Mannes zusammen. Er kniete über ihr. Der Schmerz eines weiteren Hiebes raubte ihr fast die Besinnung. Ihre Unterlippe schmeckte nach Blut.
    »Nicht …«
    »Hör auf!«
    Ich tue nichts mehr, wollte sie sagen, aber sie war nur noch eine willenlose Hülle. Er hob sie auf und warf sie sich über die Schulter. Schemenhaft sah sie durch die hervorspringenden Tränen das Tor und die Menschen, die sich nach ihr umgewandt hatten. Anschars Name lag ihr auf den Lippen. Sie sehnte sich danach, ihn hinauszuschreien, doch sie zwang sich, es nicht zu tun. Ihn zu verraten hieße, die Hoffnung zu verlieren.

10

    D as Haus des Händlers war groß genug, um es zu durchqueren, ohne jemandem in die Arme zu laufen. Eine schmale Frau hockte in einem Gemach auf einem Bett und ließ sich von einer Sklavin waschen. Anschar erhaschte den Anblick einer gebräunten Schulter und eines Rückens, der jeden Wirbel zeigte. Die Frauen, versunken in ihre

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