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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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weil sie sich fürchtete? Sie war dankbar dafür, dass Anschar sich an ihre Seite hockte und den Arm um ihre Schultern legte. Ihm schien nicht kalt zu sein, obwohl er seinen Mantel nicht mehr hatte. Sie schob einen Finger unter die Fessel an ihrem Handgelenk. Die Haut war aufgeschürft und brannte.
    Er bemerkte es. »Ich habe ziemlich an dir herumgezerrt, was? Tut mir leid.«
    »Wie geht es jetzt weiter?« Wieder klapperte die Falltür, und sie zuckte zusammen.
    »Schwierig. Wir können nicht im Hellen hinaus, und wenn wir im Dunkeln hinausgehen, ist der Palast geschlossen.«
    »Anschar …«
    »Lass mich nachdenken.«
    »Anschar! Sie schließen das Tor erst eine halbe Stunde nach Einbruch der Dunkelheit. Manchmal auch erst eine Stunde.
Ich hatte wahrhaftig viele Gelegenheiten, das von deiner Terrasse aus zu beobachten.«
    »Du hast ja recht, nur – woher wissen wir, wann diese halbe Stunde ist? Ich fürchte, ich muss wieder nach unten und die Dämmerung abwarten. Und dann …«
    »O nein, bitte lass mich nicht hier allein zurück. Es ist auch gar nicht nötig.« Sie tastete nach der Schnur um ihren Hals, zog die Uhr aus dem Ausschnitt und klappte sie auf. »Siehst du? Wir müssen etwas mehr als eine Stunde warten. Ich sagte doch, sie ist nützlich.«
    Er nickte zögernd. »Deine Stunden sind kürzer als argadische. Oder länger? Ach, sag einfach Bescheid.«
    »Diese wird so oder so elend lang werden«, murmelte sie beklommen. Als sie einen Daumennagel bearbeiten wollte, nahm er ihre Hände und hielt sie auf seinem Schoß fest. Sie legte die Wange an seine Schulter und lauschte seinem beruhigenden Atem. Beim Anblick des Kühlbeckens kamen ihr Bilder in den Sinn, die sie längst hatte vergessen wollen. All die Demütigungen, die er hatte erdulden müssen. Sein geschundener Körper. Er hatte es überstanden. Sie hatten es überstanden. Bis hierhin. Die Angst verengte ihre Kehle, und die Stunde verging schneller, als sie gedacht hatte. Viel zu schnell. Als sie ihm zunickte und die Uhr wieder in den Ausschnitt ihres Gewandes gleiten ließ, war sie überzeugt davon, keinen Schritt tun zu können. Doch dann stand sie mit ihm auf. Er nahm die Fackel aus ihrer Halterung und warf sie ins Becken.
    »Die Falltür ist unmittelbar an der Hauswand«, erklärte er, obwohl sie das ja wusste. »Neben dem Haus beginnt eine schmale Gasse, da laufen wir hin. Bist du bereit?«
    Nein, dachte sie. »Ja.«
    Er nahm sie an der Hand und führte sie die Stufen hinauf. Den Geräuschen nach war der Platz immer noch belebt.
War das gut? War das schlecht? Sie wusste es nicht. Ein Stoßgebet lag ihr auf der Zunge, aber ihr Kopf war wie leer gefegt. Schließlich hörte sie den Riegel zurückgleiten. Anschar hob die Tür leicht an. Gesprächsfetzen und schwaches Licht drangen durch den Spalt. Schritte kamen und gingen. Er war wie erstarrt, doch dann warf er die Tür auf, sprang hinaus und packte ihre Hand. Mit der anderen raffte sie das Gewand. Sekunden später drückte sie sich an die Hauswand, während er die Tür wieder schloss. Dann tauchten sie in die nachtschwarze Gasse. Es war so schnell gegangen, dass sie nicht gesehen hatte, was sich auf dem Platz tat. Oder am Tor des Palastes. Die Stadt war unruhiger als sonst, was gewiss an dem verheerenden Feuer lag. Der Brandgestank hing in der Abendluft. Aber zu sehen war nichts; es schien gelöscht zu sein.
    »Nicht stolpern«, flüsterte Anschar. »Da ist eine Abflussrille.«
    Sie tastete sich mit dem Fuß an der Rille entlang, in der nichts floss. Ein paar Schritte weiter drückte Anschar sie an die Hauswand. Dicht vor ihrem Auge befand sich ein Fenster, deren Läden offen standen.
    »Ich steige kurz hinein und hole mir den Mantel des Händlers.«
    »Wenn dich jemand sieht?«
    »Keine Angst, ich finde mich schon zurecht. Es wird ganz schnell gehen. Ohne Mantel schaffe ich es nicht in den Palast, das weißt du.«
    Sie nickte. Man würde ihn augenblicklich erkennen und festnehmen. Er schnallte den Schwertgürtel ab, wohl um nirgends damit anzustoßen, und gab ihn ihr. Wie ein Schatten glitt er zu der düsteren Fensteröffnung und verschwand lautlos.
    Grazia drückte das Schwert an sich und ging zurück zur
Gassenmündung. Erst vor wenigen Tagen hatte sie diesen Platz mit Bruder Benedikt überquert. Allmählich leerte er sich. Vorsichtig lugte sie um die Ecke. Durch das Palasttor, im Schein zweier Fackeln, drängten noch Menschen. Die Wächter wirkten nachlässig; sie schenkten keinem, den sie

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