Das gläserne Tor
verschaffen, also hastete er zurück und eine weitere Treppe hinauf. Hier begegnete er einem Sklaven, der sich an die Wand drückte, aber ruhig blieb. Anschar beachtete ihn nicht; es sah nicht so aus, als hätte er etwas von ihm zu befürchten. Lediglich dem herumschlendernden Palastwächter, dem er nach einer Biegung fast in die Arme lief, schleuderte er die Lampe ins Gesicht. Der Mann ließ seinen Speer fallen, warf die Arme hoch und riss sie wieder herunter, als sich Anschars Klinge in seine Brust bohrte. Er starb so schnell, dass er keine Zeit hatte, einen Laut von sich zu geben. Anschar schleppte ihn ins nächstbeste Zimmer und nahm den Speer an sich. Jederzeit konnten Menschen auftauchen, aber es war spät, die meisten schliefen sicherlich längst. Er musste sich einfach darauf verlassen, dass er noch eine Weile unentdeckt blieb.
Die Lampe lag zerbrochen auf dem Boden. Den Rest des Weges musste er sich vorwärtstasten, aber es war nur ein kurzes Stück. Bald sah er Licht – Fackeln erhellten den Garten. Er gelangte auf die Galerie über den Pfeilergängen und duckte sich hinter die Brüstung. Aus dem Augenwinkel hatte er Grazia gesehen. Für einen Augenblick war er blind vor Erleichterung. Sie lebte.
Er schob sich hoch, bis er über die Brüstung spähen konnte. Was er dort unten im Garten sah, zerrte an seinem Verstand. Inmitten der Rasenfläche, unweit des Vogelhauses, stand das, was er in Gedanken immer den Behälter genannt hatte. Jetzt sah er, was darin war: Wasser. Dort unten auf dem Gras stand eine Säule aus Wasser. Das flackernde Licht der Fackeln ließ sie glänzen und glitzern. In ihr schwebte der Gott; er hatte Anschar den Rücken zugekehrt. Wie Wasserpflanzen tanzten seine Haare um die breiten Schultern.
So atemberaubend der Anblick des Gottes in seiner Wassersäule war, Anschar konnte kaum die Augen von Grazia losreißen. Er wollte schreien angesichts dessen, was ihr zugefügt worden war. Ihre Wange war gerötet, wie von Schlägen, und auf ihren geschwollenen Lippen und am Kinn klebte Blut. Ihr Haar war zerzaust und umfloss sie bis zu den Ellbogen. Mallayur, der hinter ihr stand, hatte die Hand um ihren Hals gelegt, sodass sie gestreckt dastand und sich nicht rühren konnte. Bleich war sie, von Furcht gezeichnet.
Ein Palastkrieger stand bei ihnen. Anschar glaubte in ihm einen der beiden Torwächter zu erkennen. Und auch die Nihaye war da. Wenige Schritte entfernt betrachtete sie die seltsame Szenerie eher belustigt. Eine Hand lag lose auf ihrer Hüfte. Sie hatte die Lider halb geschlossen. An ihrem linken Ohr hing ein Reif, den Anschar nur zu gut kannte. Der Ohrring seiner Mutter.
Langsam richtete er sich auf, verdeckt von einem hölzernen Pfeiler. Seine Hände glitten den Speerschaft entlang, auf der Suche nach der Stelle, wo die Waffe bestmöglich zu packen war.
Eine Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit zu dem Gang, aus dem er gekommen war. Dort stand der Sklave und reckte neugierig den Kopf. Anschar bedeutete ihm, vorsichtig näher zu kommen.
»Ich brauche noch einmal Licht«, flüsterte er. »Ein schwaches.«
Der Junge nickte und huschte geduckt fort. Bald darauf kehrte er mit einem weiteren Kugellämpchen zurück. Die winzige Flamme, so hoffte Anschar, würde vom hell erleuchteten Garten aus, in dem jeder nur Augen für den Gott hatte, unbemerkt bleiben. Er nahm die Lampe entgegen und stellte sie auf den Boden.
»Und jetzt?«, fragte der Sklave.
»Jetzt lauf in die Sklavenräume. Und bleib dort.«
Der Junge öffnete ängstlich den Mund, wagte aber kein Widerwort. Leise zog er sich zurück und verschwand in der Schwärze des Ganges.
Anschar streifte den Mantel ab und ließ ihn fallen. Mit dem Fuß schob er das Lämpchen dicht an den Stoff. Es war an der Zeit, er musste sich entscheiden. Wen sollte er wählen? Mallayur, den Anführer all diesen Übels? Er stand viel zu nah bei Grazia. Und auch wenn der Wurf gelang, blieb noch die Nihaye. Sie war das gefährlichste Geschöpf dort unten. Sollte er auf sie zielen? Aber was, wenn sie sich schützte? Der Speer nutzlos an ihr abprallte?
Sie redeten. Anschar hörte die Worte, aber sie drangen nicht in ihn. Der Speerschaft drückte gegen seine Wange. Er spürte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren drang, von seiner Schläfe tropfte, seine Finger schlüpfrig machte und ihm kalt den Rücken hinunterlief. Er schluckte, atmete schwer und schloss die Lider. Angst war keine gute Hilfe, wenn es galt, mit einem gezielten Wurf zu töten. Er
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