Das gläserne Tor
Frau starrte sie so eindringlich an, dass die silbernen Regenbogenhäute um ihre Pupillen zu kreisen schienen. »Sie will nicht!«
»Wenn ihr mich so einschüchtert, kann ich gar nichts«, murmelte Grazia.
Geeryu warf lachend den Kopf zurück, strich sich in einer überheblichen Geste die glänzend schwarzen Haare über die Schulter und offenbarte einen goldenen Reif, der von ihrem Ohr hing. Einen Reif mit zwei geflügelten Fabelwesen, die einander zugewandt waren. »Die das Wasser beherrschen, sind anscheinend alle leicht einzuschüchtern. Du genauso wie der zarte Gott.« Sie ließ von Grazia ab und schlenderte zu einem Teich. Geschmeidig ließ sie sich auf dem Mäuerchen nieder, das ihn umgab, schlug ein Bein über das andere und ordnete ihr fließendes Gewand. Silberne Ringe blitzten an den Zehen. Sie war eine äußerst schöne Frau, doch auch seltsam alterslos. Dies war die Nihaye, das hatte Grazia ja schon am Tag des Zweikampfes geahnt. Die Nihaye mit der Gabe, die Luft zu festigen. Eine Halbgöttin.
Mallayur kehrte Grazia den nackten Rücken zu und verschränkte die Arme. Ein Schweißrinnsal lief aus dem kleinen geflochtenen Zopf zwischen seine Schulterblätter und rann in den Bund seines knöchellangen Wickelrocks. Er schien in die Betrachtung einer dicken, drei Meter hohen Säule zu versinken. Ein Tuch bedeckte sie, von Grasseilen gehalten. Der Behälter! Grazia vergaß ihre missliche Lage. Dort unter dem Tuch, dort war der Gott.
Jäh wirbelte Mallayur zu ihr herum, packte das Band, das von ihrem Handgelenk hing, und zerrte sie hinter sich her. Dicht vor dem Behälter blieb er stehen und schob sie vor sich. Nun war er es, der sie festhielt, nur nutzte er keinen Dolch, sondern legte die Hand auf ihre Kehle. Sie zweifelte nicht, dass er die Kraft hatte, ihr den Hals umzudrehen. Oder wenigstens sie blitzschnell zu erwürgen.
»Entferne das Tuch«, befahl er dem Wächter.
Der Mann schnitt das Seil durch und wickelte es ab; das tat er ganz arglos, als wüsste er nicht, was sich darunter verbarg. Kaum war das Seil entfernt, glitt das Tuch herunter. Er stieß
einen nur mühsam unterdrückten Schrei aus und ließ den Dolch fallen. Dann besann er sich auf die Disziplin eines Palastkriegers, hob die Waffe mit fahrigen Fingern auf und taumelte nach hinten, den Kopf im Nacken, die Augen aufgerissen. Hinter sich hörte Grazia den König von Hersched erregt aufseufzen. Seine Finger legten sich um ihren Kiefer und zwangen sie hinzusehen. Es war unnötig. Nicht einmal die Lichtsäule des Tors, in ihren Ausmaßen dieser hier ganz ähnlich, konnte beeindruckender sein. Grazia streckte die Hand aus und erfühlte kalte, feste Luft.
Anschar blieb stehen, als ein Räuspern auf der Treppe erklang. Er hatte sich mittlerweile durch den halben Kellerraum getastet und kochte vor Wut. Es fehlte nicht viel, und er hätte sein Schwert gezogen, um es sich leichter zu machen. Nur die Gefahr, damit tatsächlich den Behälter zu finden, hielt ihn davon ab. Es hätte Lärm verursacht, der bis zu den Verdammten in der tiefsten Tiefe des Felsens gedrungen wäre.
Der junge Sklave stand auf der obersten Stufe, die Hände auf den frierenden Armen. »Was tust du da? Hier darf niemand her.«
»Ich suche den Behälter, in dem der letzte Gott gefangen ist!«
»Der wurde gestern in den Garten gebracht.«
Der Junge machte einen Satz nach hinten, als Anschar die Treppe hochstürmte und ihn beiseitedrückte. Grazia – sie musste dort sein. Alles andere war undenkbar. Zumindest unwahrscheinlich. Sie musste es, andernfalls würde er sich nicht mehr beherrschen können und eine blutige Spur durch den Palast ziehen. Mit der Hand am Schwert und der Lampe in der anderen hastete er den Weg zurück und eine Treppe hinauf.
»Wer ist da so gerannt?«, hörte er unten jemanden fragen.
»Ich war das«, sagte der junge Sklave, ohne zu zögern. »Ich bin vor dem Aufseher geflüchtet.«
Die Antwort verstand Anschar nicht mehr, und es war ihm fast gleichgültig, ob er erwischt wurde oder nicht. Erst im Erdgeschoss besann er sich. Kopflosigkeit half weder Grazia noch ihm. Er folgte weiteren Korridoren, huschte von einer dunklen Ecke zur nächsten und gelangte in die Nähe des Gartens. Als er eine Tür erreichte, welche auf einen der Pfeilergänge hinausführte, die den Garten umgaben, blieb er stehen. Was erwartete ihn dort draußen? Er wäre nicht nur blind, sondern auch dumm, ginge er einfach durch diese Tür. Erst musste er sich einen Überblick
Weitere Kostenlose Bücher