Das gläserne Tor
Reise verlief lange Zeit ereignislos. Wir hofften, unerschrockenen Leuten zu begegnen, die uns anhören würden. Doch wann immer wir Wüstenmenschen sahen, flohen sie vor uns. Die Reise wurde immer anstrengender, uns wurde schon das Wasser knapp. Eines der Packpferde starb am Biss einer Schlange. Die Hitze … Nun ja, ihr wisst nur zu gut, wie es uns erging.«
»Dieses Land ist ein einziges trockenes Elend.«
Die Männer nickten und stießen Flüche aus.
»Ich vermute, dass irgendeiner von diesen Hunden zu seinem Stamm lief und von uns Meldung machte. Geschätzte hundert Männer rotteten sich zusammen und griffen uns an.« Anschar deutete zur Felsenkette. »Etwa zwei Tagesmärsche von hier befindet sich ihr Dorf, diese Richtung ist also tunlichst zu meiden.« Grimmig stöhnte er auf und griff sich vom Feuer einen weiteren Spieß. »Wir haben sie unterschätzt. Besser gesagt, haben wir ihre Einfalt unterschätzt. Wir dachten, sie könnten zwischen Besuchern und Sklavenhändlern unterscheiden. Aber da machen sie keinen Unterschied.«
»Sie sind Tiere. Wie ein Rudel ausgehungerter Hunde. Und sie stinken auch so.«
»So ist es.«
»Sie verdienen nichts anderes, als dass man sie versklavt.«
Nur zu gern hätte Grazia eingeworfen, dass man von einem Volk, das ständig gejagt wurde, wohl kaum erwarten konnte, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Aber das wagte sie nicht. Sie war froh, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihr lag.
»Und deine Leute?«, fragte Hadur. »Du weißt zweifelsfrei, dass sie tot sind?«
»Sie sind tot«, erwiderte Anschar und schleuderte den abgenagten Spieß ohne ein weiteres Wort ins Feuer. »Was werdet ihr jetzt tun?«, fragte er nach einer Weile.
»Ins Hochland zurückkehren. Was denn sonst? Die Oase kann schließlich sonst wo sein.« Hadur fuhr sich mit dem Finger über den Hals. »Mir steht die Wüste bis hier! Es war eine verrückte Idee, hier einen Gott zu suchen, und das weißt du auch. Jetzt geht es nach Hause. Mallayurs Prügel sind mir lieber als noch länger hier herumzustapfen.«
Wer war noch gleich Mallayur? Grazia neigte sich zu Anschar. »Mallayur?«
»Der König von Hersched und Bruder des Meya, des Königs von Argad. Mallayur ist ihm untertan, wie die anderen Könige auch. Er kann es nur schwer hinnehmen, dass Madyur-Meya der Großkönig und alleinige Herrscher des Hochlandes ist, während er sich mit seinem kleinen Zipfel Hersched begnügen muss, der zu seinem Verdruss auch noch am stärksten unter der Trockenheit leidet. Kein sehr angenehmer Mensch, ich hatte oft das zweifelhafte Vergnügen, anwesend zu sein, wenn der Meya ihm eine Audienz gewährte. Einmal habe ich gesehen, wie er einen Sklaven töten ließ, bloß weil der ihm im Weg stand.«
»Du beleidigst unseren König«, sagte Hadur.
»Ach, man kann ihn beleidigen? Wirklich?«, höhnte Anschar.
Die beiden Männer funkelten sich an, aber Hadur senkte rasch den Blick. »Du und dein Fundstück seid natürlich eingeladen, euch uns anzuschließen. Auf den Buckeln da hinten ist noch Platz.« Er deutete mit dem Daumen auf die Reittiere.
»Was sind das für Tiere?«, fragte Grazia und erntete einen verständnislosen Blick.
»Sturhörner.«
»Sturhörner? Weil sie … stur sind?«
Es folgte ein Scherz, den sie nicht verstand, der aber die Männer in anzügliches Gelächter ausbrechen ließ. Auch Anschar lachte, aber er war nicht bei der Sache, das spürte sie. Er vertilgte inzwischen das dritte Stück Fleisch, ohne darum gebeten zu haben. Wüsste sie es nicht besser, so würde sie glauben, er sei der Anführer und nicht Hadur, der doch zweifellos einen prächtigen Bandenführer abgab.
»Zum Glück konnten wir bei unserer Flucht einige Sturhörner retten«, sagte Hadur. »Wir werden jetzt schlafen und uns noch in der Nacht auf den Weg machen.«
Anschar nickte. »Gut. Hast du eine Decke für die Frau und einen Mantel für mich?«
Hadur nickte seinem Sitznachbarn zu, der zu einem der schlafenden Sturhörner ging und mit beidem zurückkehrte. Grazia bedankte sich und folgte Anschar zum Rand des Lagers einige Schritte außerhalb des Feuerscheins. Sie hätte es vorgezogen, in den Schutz der Felsen zurückzukehren, aber sie glaubte ohnehin nicht, hier ein Auge zutun zu können. Sie breitete die Decke auf dem Boden aus, legte sich darauf und schlang den Mantel fest um sich. Anschar setzte sich zu ihr, das Gesicht dem Lager zugewandt, wo sich die Männer ebenfalls in ihre Decken hüllten. Zwei blieben sitzen
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