Das gläserne Tor
Seufzen aus, schob das Schwert in die Scheide und schlich zum Lager zurück. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Sein Schatten glitt zu der Stelle, wo sie geschlafen hatte. Mit kerzengeradem Rücken ging er in die Knie und tastete herum, während er den Kopf hochreckte. Sie flüsterte ein Stoßgebet, dass er die Tasche finden möge. Endlich kehrte er zurück und reichte sie ihr hinauf. Hastig kontrollierte sie, ob auch alles darin war, obwohl sie nicht gewagt hätte, ihn ein zweites Mal zu schicken. Er nahm indes wieder die Zügel auf. Grazia schlang den Beutel um sich und packte den Sattelgriff. Der Rücken des Sturhorns schwankte. Sie musste alle Beinmuskeln anspannen, um nicht abzurutschen.
Aus der Richtung des Lagers hörte sie einen Mann grunzen. Plötzlich saß Anschar vor ihr, in der Hand die blanke Klinge.
»Halt dich fest«, raunte er. »Wenn das Sturhorn nicht auf unserer Seite ist, dann sei Inar uns gnädig – sie werden es nicht sein.«
»Großer Gott«, stieß Grazia auf Deutsch hervor.
»Was hast du gesagt?«
Sie wiederholte es. Er stieß ein ungläubiges Schnauben aus.
»Dein Gott ist groß? Dann bete zu ihm, Feuerköpfchen. Bete!«
Er schlug mit der flachen Klinge auf die Flanke des Tieres. Durch den gewaltigen Körper ging ein Ruck. Das Sturhorn riss den Kopf hoch, warf ihn hin und her. Für einen Moment befürchtete Grazia, es werde steigen und sie abwerfen. Hinter sich hörte sie verwunderte Rufe und den Aufschrei eines Mannes, der sich nach vorn warf. Eine Hand packte ihr Bein und zerrte sie herunter.
Sie wurde herumgewirbelt und fand sich rücklings auf dem Boden wieder. Ein spitzbärtiger Mann beugte sich über sie. Aufschreiend stieß sie die Hände vor. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut, sodass ihr das Blut in den Adern gefror. Er riss seinen Dolch aus der Scheide, doch bevor er zustechen konnte, glitt Anschars Klinge durch seinen Hals und schleuderte ihn beiseite. Vor sich sah sie das Sturhorn, darauf Anschars alles überragenden Oberkörper. Er lenkte es mit hartem Zügelgriff, während er mit dem Schwert erneut ausholte.
»Steh auf!«, donnerte er über das Geschrei der Männer hinweg. »Steh auf!«
Ihre Knie waren wie Butter. Sie kämpfte sich auf die Füße, von Furcht erfüllt, er könne sie zurücklassen. Ein zweiter Mann fiel durch sein Schwert, einen dritten stieß er mit dem Fuß beiseite. Dann ließ er die Zügel los, um nach ihr zu greifen. Das Schwert fast blind in der Luft wirbelnd, beugte er sich herab und packte sie unter der Achsel. Einen Herzschlag
später fand sie sich vor ihm auf dem Sattel wieder. Sie schlang die Arme um seine Mitte. In ihren Ohren rauschte es, sodass sie die Schreie der Herscheden nur gedämpft vernahm. Sie betete, ja, das tat sie, aber die Worte nahm sie kaum wahr. Über Anschars Schulter hinweg sah sie die Männer, darunter drei oder vier, die in ihrem Blut lagen und sich nicht mehr rührten. Das Sturhorn stampfte über den Boden und wirbelte den Sand auf. Sie zitterte vor Erleichterung, dass Anschar sie nicht zurückgelassen hatte. Er hätte es tun können. Doch sie glaubte, Angst in seinen Augen gesehen zu haben. Angst um sie.
Das Tier galoppierte über die Kämme eines Dünenfeldes, wo es trotz seiner Massigkeit nicht einsank. Der Ritt schien Stunden zu dauern. Grazias Hinterteil schmerzte, ebenso ihr Rücken, denn sie saß seitlich auf dem Sturhorn und hatte sich Anschar zugewandt, um sich an ihm festzuhalten. Die Fischbeinstäbe des Korsetts drückten in ihre Achsel. Sie konnte nichts dagegen tun, nur die Wange an seine Schulter legen und die vorbeiziehende Landschaft betrachten. Im rötlichen Mondlicht warfen die Dünen bizarre Schatten. Sie schienen einem Traum zu entspringen.
Grazia lauschte, ob die Männer ihnen auf den Fersen waren, doch sie waren offenbar weit weg. Nur das Knirschen des Sandes und das Schnaufen des Tieres drangen durch die Nacht. Der Sand verschluckte die Geräusche wie Schnee.
Anschar zwang das Tier zu einer langsameren Gangart. Es prustete und schnaufte, schien aber nicht müde zu sein. Er streckte den Rücken und ließ die Zügel hängen.
»Geht’s dir gut?« Er hörte sich müde an.
»Ja, nur tut mir alles weh. Sind wir sicher?«
»Ich denke schon. Im Grunde glaube ich nicht, dass sie uns verfolgen. Sie werden schnell gemerkt haben, dass sie kaum noch Wasser haben.«
»Du hast ihnen alles Wasser genommen?«
»Ich habe ihnen genug gelassen, um es bis zu den Wüstenbewohnern zu schaffen. Wo das Dorf
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