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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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ist, wissen sie ja.«
    Grazia versuchte das Gehörte zu verarbeiten. Im Dorf würde man die Männer ebenfalls für Sklavenhändler halten und sie womöglich alle in die Höhle sperren. Oder Schlimmeres mit ihnen tun. Sie schauderte. »Ich möchte ausruhen. Nur kurz, bitte.«
    Er brachte das Sturhorn zum Stehen, stieg ab und half ihr herunter. Die Knie knickten ihr weg, sie sackte in den Sand und presste die Beine an sich, um sich zu beruhigen. »Es war so furchtbar«, flüsterte sie. »Warum hast du das getan? Waren das nicht Freunde?«
    »Freunde? Herscheden? Du machst Scherze.«
    »Ich dachte, du magst nur die Wüstenmenschen nicht.«
    »Ich mag die Herscheden nicht. Die Wüstenmenschen hasst man. Du erkennst den Unterschied?« An einem Büschel Gras, das aus dem Sand ragte, säuberte er sein Schwert und schob es in die Scheide zurück. »Sie dachten, ich schliefe, das konnte ich aber nicht. Irgendwann merkte ich, wie Hadur mit jemandem zu flüstern anfing, auf eine Art, die sofort misstrauisch macht. Und da hörte ich, wie er davon redete, mich bei einer passenden Gelegenheit während der Rückreise zu töten.«
    »Aber warum?«
    »Das weiß allein Inar. Hadur hatte keinen Grund, das zu tun.«
    »Vielleicht der König, der ihn ausgeschickt hatte? Wie war sein Name? Mallayur?«
    »Du meinst, Hadur hätte in seinem Auftrag gehandelt? Mhm. Nein. Der hat auch keinen Grund. Wäre ich allein gewesen, hätte ich vielleicht versucht, die Antwort aus Hadur herauszupressen. Vielleicht auch nicht – die Zeit der Gefangenschaft
hat mich etwas träge gemacht. Aber deinetwegen ging das sowieso nicht. Stunde um Stunde lag ich wach, bis ich sicher war, dass alle schliefen. Dann bin ich aufgestanden, habe die Wachen getötet und sämtliches Zaumzeug durchgeschnitten, damit sie uns nicht hinterherreiten können. Man kann die Sturhörner ohne Zaumzeug zu nichts bewegen. Die heißen nicht umsonst so.«
    Er erzählte es, als sei es ein Leichtes gewesen. Währenddessen hatte er einen der Beutel vom Sattel geknüpft und hielt ihn dem Tier vor die Schnauze.
    »Und du hast das getan und die Wasserbeutel aufgesammelt, und kein Mann wachte auf?«, fragte sie fassungslos. Wie man es schaffte, zwei Wachen lautlos zu töten, ohne dass einer lärmte, war ihr unbegreiflich. Und er hielt sich für träge?
    »Natürlich wurde ab und zu einer wach. Dann habe ich mich hinter einem Sturhorn versteckt. Die ganze Sache hat Stunden in Anspruch genommen! Die größte Schwierigkeit war, zuletzt das Sturhorn zum Laufen zu bewegen, aber dein Gott hat uns ja erhört. Wenn auch knapp. Hast du auch Durst?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Was wollten sie … mit mir tun?«
    »Das weißt du wirklich nicht?«
    Schluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht. Nein, sie wollte es nicht wissen. Fast hätte sie laut geweint, als er ihre Handgelenke umfasste und sanft herunterzog. Er war vor ihr in die Hocke gegangen. Warm lagen seine Finger auf ihrer Haut.
    »Es ist ja vorbei. Schscht, Feuerköpfchen. Es ist vorbei.«
    Sie nickte.
    Er stemmte sich hoch und zog sie mit sich. »Komm, wir müssen weiter.«
    Im nächsten Augenblick hing sie an seinem Hals und weinte.
Sie kam sich schrecklich hysterisch vor, aber sie konnte nicht anders. Seine Hand strich über ihren Hinterkopf. Eine kurze Weile genoss sie seine beruhigende Nähe, doch dann brachte sein übler Körpergeruch sie wieder zur Besinnung. Sie schob sich von ihm weg und überlegte, ob sie auch so schlimm stank.
    »Geht’s wieder?«, fragte er.
    »Weeß ick nisch«, stieß sie in einem Anflug von Trotz hervor. Er sollte nicht denken, dass sie eine verzärtelte Dame war. Obwohl es ja stimmte. Schniefend rieb sie sich über die Nase.
    Anschar grinste und tätschelte ihre Wange. »Deine Sprache ist komisch. Du könntest mir eigentlich auch ein paar Wörter beibringen.«
    »Wirklich?«
    »Warum nicht? Habe ich derzeit Besseres zu tun? Also, was hast du gerade gesagt?«
    Grazia wollte ihm schon erklären, dass sie bloß berlinert hatte, aber das war ihr dann doch zu umständlich. Außerdem war es gleich, was er lernte, er würde es sowieso nie anwenden können. Also sprach sie es ihm vor.
    »Weeßicknisch, weeßicknisch«, wiederholte Anschar. Er sprach es erstaunlich gut aus, wenn man bedachte, dass er aus einer Kultur stammte, die gar nicht wusste, was eine Fremdsprache war. Sie nahm sich vor, die Zeit der Rückreise gut zu nutzen, um sich in seiner Sprache zu verbessern. Drei Monate würde es dauern, hatte er

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