Das gläserne Tor
nichts Besseres, als dort ein Felsenbier zu trinken.«
»Ach ja, Bier«, murmelte sie. Das hatte er erwähnt, andernfalls hätte sie mit dem Wort nichts anzufangen gewusst.
»Gibt es das in deiner Welt auch?«
»Hunderte von Sorten, schätze ich.«
Er lachte, zum ersten Mal seit Wochen. »Sie scheint nicht uninteressant zu sein.«
Bei den ersten Häusern saßen sie ab, inmitten einer Herde gesattelter und bepackter Sturhörner. Es stank entsetzlich nach Urin. Grazia fragte sich, ob die Tiere daran schuld waren oder die Bewohner dieser Stadt einfach ihre Hinterlassenschaften aus den Fenstern kippten. Anschar tränkte sein Sturhorn und winkte aus einem Pulk von wartenden Jungen einen herbei, den er anwies, auf das Tier aufzupassen. Dann fasste er Grazia am Arm und führte sie eine wacklige Holztreppe hinauf. Es gab ein Handseil, an das sie sich klammern konnte, aber wirklichen Halt bot es nicht. Sie ermahnte sich, nur auf die nächste Stufe zu blicken, und tastete sich Stück für Stück hinauf. Durch eine Bodenluke erreichten sie das erste Haus. Hier saßen an einem langen Tisch mehrere Männer und ergaben sich dem Trunk. Grazia begriff, dass die schwebende Stadt eine einzige Ansammlung von Wirtshäusern war. Über Treppen, Rampen, schmale, aus dem Fels gehauene Wege und wiederum Treppen ging es immer weiter hinauf, oft mitten durch die Hütten hindurch. Eine Schankstube wechselte die nächste ab. Ab und zu geriet Anschar mit anderen Männern ins Gespräch, verkaufte einem von ihnen das Sturhorn und erklärte vielen anderen, dass sich Grazia nicht erwerben ließ. So ging es schier endlos, bis ihr die Waden schmerzten. Erleichtert atmete sie auf, als er sich in einer der Hütten auf eine Bank hinter einen Tisch setzte. Ihr knickten fast die Knie ein, und er musste sie festhalten, damit sie vor Erschöpfung nicht auf den Boden fiel. Sie schob sich an seine Seite und schüttelte die Beine, um die zittrigen Muskeln zu entspannen.
»Ich kann nicht mehr!«, jammerte sie.
»Wir sind bald oben.« Er winkte einen Jungen herbei und bestellte zwei Krüge Bier, das sofort gebracht wurde. Grazia nippte daran. Seltsam schmeckte es, und es war körnig. Dicht neben ihr befand sich eine der Außenwände, so nachlässig gezimmert, dass der Wind durch die Ritzen pfiff und – was schlimmer war – den Blick hinunter frei gab. Grazia sah die mit Felsengras gedeckten Dächer der Hütten, die scheinbar schwebenden Treppen und tief, tief unten die Ebene, auf der die Menschen und die Sturhörner wie Spielzeugfiguren wirkten. Nein, eher wie Ameisen.
»Mir ist schlecht.« Sie wusste ja längst, wie belastbar die aus Felsengras geflochtenen Bänder und Seile waren, die dafür sorgten, dass die wacklig aussehende Konstruktion hielt, und trotzdem ballte sich in ihrem Bauch schmerzhaft die Furcht.
»Trink, Mädchen, trink, dann geht’s dir besser!«, rief jemand vom Nebentisch. Dort saßen drei Männer in fleckigen Kitteln, an denen wohl schon viel Bier hinuntergeflossen war. Einer beugte sich vor und tat so, als wolle er nach ihr schnappen. Grazia zuckte zurück, obwohl er zu weit weg saß, um sie erreichen zu können. Sie brachen in grölendes Gelächter aus.
»Kann man jetzt Sklavinnen mit roten Haaren kaufen?«, rief ein anderer. »Wie färbt man die?«
Sie drückte sich an die Felswand in ihrem Rücken. Diese Kneipenstadt mochte für Männer ein angenehmer Aufenthaltsort sein, für Frauen gewiss nicht. Anschar zog ihr die Kapuze in die Stirn und schob sich den rechten Ärmel herunter. Gemächlich trank er weiter, den Arm auf die Tischplatte gestützt. Die Männer starrten mit offenen Mündern auf seine Tätowierung und verfielen in betretenes Schweigen.
»He!«, kam es da aus einer anderen Ecke. Ein großer Mann mit zotteligen Haaren und einem perlenbesetzten
Ziegenbart stapfte heran und ließ die Hütte erbeben, sodass sich Grazia mit einem leisen Aufschrei an Anschars Arm klammerte. »Ohne ein Wort meine Gäste zum Schweigen zu bringen – das können nicht viele. Bei Inars Gemächt! Anschar! He, wo ist der letzte Gott? Hast du ihn etwa in der Tasche?«
»Der ist mir weit und breit nicht begegnet.« Anschar hob die Hand, und der Wirt schlug ein, sodass es klatschte. »Weiß man etwas von den anderen Suchtrupps?«
»Da man solcherlei Nachrichten hier in der schwebenden Stadt am schnellsten erfährt, kann ich guten Gewissens behaupten, dass du der Erste bist, der zurück ist. Ich habe darauf gewettet, dass dein Trupp als
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