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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Anschar, als sich Grazia anschickte, die Terrasse zu betreten. Oder war es ein Balkon? Von dieser Seite hatte sie den Palast noch nicht gesehen. Sie hatte überhaupt recht wenig vom Rest des Weges wahrgenommen und stattdessen nur mehr auf ihre Füße geachtet, damit sie nicht hinfiel. Da war ein großes Tor gewesen, dahinter verwinkelte Gänge und wieder Treppen, über die Anschar sie schlussendlich getragen hatte.
    Müde tappte sie über die steinerne Terrasse, um wenigstens einen Blick auf die Stadt zu werfen, bevor sie sich ausruhte. Welche Stadt? Grazia rieb sich die Augen. Selbst das Nachdenken fiel ihr schwer. Sie befand sich in Argadye, aber
was sie sah, war Heria, ein heller und riesiger Teppich dicht gedrängter Flachdächer, auf denen Sonnensegel gespannt waren und Stoffe zum Trocken lagen. Frauen und Kinder saßen allerorten im Schatten der Planen. Hinter der Stadtmauer erstreckten sich ockerfarbene Felder und weit in der Ferne eine Bergkette. Ob die Felder wegen der Dürre so aussahen? Oder war jetzt nicht die rechte Jahreszeit?
    Ein Schauer durchlief sie, als sie sich vorbeugte, um nachzusehen, was sich unmittelbar unter ihr befand. Anschar hatte recht, das war nicht der richtige Anblick für sie. Der Palast war dicht an die Schlucht gebaut. Unter ihr befanden sich vier Etagen, und darunter begann fast übergangslos die Felswand. Nur eine schmale Straße, auf der die Menschen ganz unbefangen herumliefen, trennte das Gebäude vom Abgrund. Ihr Magen wollte sich heben, als sie den Grund der Schlucht erblickte, ein schmales Band, im Schatten fast nicht erkennbar. Da war auch die Brücke, von der Anschar erzählt hatte. Sie hatten sie überquert, denn Grazia erinnerte sich, die mit farbigen Reliefs verzierten Torpfeiler gesehen zu haben, die an beiden Enden aufragten. Sie wankte zurück in seine Gemächer. »Ich wusste nicht, dass du so dicht an der Schlucht wohnst. Für mich wäre das nichts. Weißt du, bei uns zieht man die Beletage vor, wenn man es sich leisten kann.«
    »Die was?« Er sprach soeben mit einem Mann, der einen weißen, mit einem türkisfarbenen Saum versehenen Wickelrock trug. Dieses Kleidungsstück war ihr schon aufgefallen, denn es trugen hier viele. Sklaven. Der Mann, dessen dunklere Hautfarbe den Wüstenmann verriet, verneigte sich und ging.
    »Den Wohnraum ganz unten«, erklärte sie in Ermangelung des richtigen Wortes und sackte auf eine Bank. »Dann muss man nicht so viele Treppen steigen. Aber das scheint hier ja
zum Alltag zu gehören, außerdem habt ihr zum Tragen die armen Wüstenmenschen.«
    »Ich habe ihn angewiesen, das Becken zu füllen. Nach dem Bad wirst du dich besser fühlen.«
    »Das Becken? Er muss das Wasser bis hier heraufschleppen?«
    »Nicht er allein. Aber ja, wie sollte es sonst heraufkommen?«
    Auf den Gedanken, dass man zum Baden hinuntergehen könne, schien er nicht zu kommen. Allerdings war die Vorstellung, gleich in sauberes Wasser zu sinken, ohne sich noch einmal fortbewegen zu müssen, so angenehm, dass sie nicht länger widersprach. Anschar war ohnehin mit seinen Gedanken woanders, denn er ging mit verschränkten Armen umher und starrte auf den mit Bastmatten belegten Boden.
    »Anschar …«, setzte sie an, um ihn endlich zu fragen, was ihn seit geraumer Zeit plagte. Da kam er zu ihr und beugte sich herab.
    »Ich muss mich um ein paar Dinge kümmern.«
    »Du lässt mich allein?«
    »Henon, mein Leibsklave, wird sicher bald zurückkommen. Wahrscheinlich sitzt er in den Gärten und schläft, etwas anderes hatte er in meiner Abwesenheit ja nicht zu tun.« Er hob die Hand, als sie den Mund öffnete. »Ich bin gleich wieder zurück. Ich muss ein paar Leuten von meiner Rückkehr berichten. Vor allem Madyur-Meya, der König, muss es wissen. Wie es jetzt mit dir weitergeht, weiß ich leider nicht. Nur ein Priester könnte dein Rätsel lösen.«
    »Wann kann ich einen solchen Priester sprechen?«
    »Das weiß ich nicht. Hab ein wenig Geduld. Auf ein paar Tage kommt es jetzt wohl nicht mehr an. Ich kümmere mich darum, dass du gut untergebracht wirst. Es wird dir an nichts fehlen.«

    Grazia nickte und begann fahrig an einem Daumennagel zu kauen. Sie hatte sich an Anschars beständige Gegenwart gewöhnt und scheute sich davor, die restliche Zeit in dieser Welt ohne ihn zu verbringen, auch wenn die Spanne, wie sie hoffte, kurz war. Einen Leibwächter des Königs würde sie sicher nicht oft zu Gesicht bekommen. Schief lächelte sie ihn an. »Du bist sicher froh, mich

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