Das gläserne Tor
gesagt. Das hieß, hundertzwanzig Tage. Lange Tage. Sehnlichst wünschte sie sich in seine Stadt, wo man zwar nicht telegraphieren, aber baden konnte. Er half ihr wieder in den Sattel, schwang sich vor ihr hinauf und packte die Zügel. Es machte ihr nichts aus, die Arme um seine Mitte zu legen, um sich festzuhalten. Es beruhigte sie. Ein wenig verblassten die Bilder von Kampf und Sterben.
6
D as Sturhorn stillte mit schlürfenden Geräuschen an einem Wasserlauf seinen Durst. Es war der erste Bach auf ihrem Weg, der tief genug war, um darin zu baden. Grazia hätte das liebend gern getan. Ihr Gewand starrte vor Dreck, und überall juckte der Sand. Den Schweißgeruch nahm sie schon gar nicht mehr wahr, und an die Tage, als sie sich damit abgequält hatte, ihre Monatsblutung möglichst unauffällig hinter sich zu bringen, wollte sie gar nicht erst zurückdenken. Anschar kniete im Bach, goss sich das trübe Wasser über die Haare, spülte die abrasierten Bartstoppeln herunter und durchnässte die löchrigen Kleider. Sie zog es vor, im Schatten des Sturhorns zu warten und ihre Schenkel zu kneten. Mittlerweile schmerzten sie nicht mehr, und unter den Fingern spürte sie Muskeln, die dort nie gewesen waren. Trotzdem war jede weitere Stunde auf dem Rücken des Tieres eine Qual. Wenigstens war es ihr gelungen, einen Sonnenbrand zu verhindern. Sie hasste ihren stinkenden Mantel, achtete aber sorgsam darauf, sich damit zu bedecken.
Am Horizont sah sie das Hochland, eine dicke, graue Linie, die in der Hitze flirrte. Es war, als habe sich das Land erhoben, wie eine Treppenstufe. Drei Tagesritte war es entfernt, hatte Anschar am Morgen verkündet, und doch wirkte es jetzt schon gewaltig. Aufregend.
»Kühl wenigstens deine Füße«, meinte er, nachdem er aus dem Bach gestiegen war und sich die Haare schüttelte. »Ich sehe schon nicht hin.«
Er entfernte sich einige Schritte und band die Haare im
Nacken zusammen. Derweil betrachtete er das graue Band in der Ferne. Grazia raffte das Gewand, streifte die Bastschuhe ab und stieg über das steinige Ufer hinab in den Bach, gerade so weit, dass das Wasser ihre Knöchel umspielte. Es war tatsächlich frischer als die bisherigen Bäche und nahezu ausgetrockneten Wadis, die sie bisher durchquert hatten. Manchmal hatte sie während des Rittes die Hände unter das Gewand gesteckt und kühlendes Wasser an den Beinen herablaufen lassen, doch seit Anschar einmal stirnrunzelnd gefragt hatte, ob sie sich eingenässt habe, ließ sie es bleiben.
Er schien in Gedanken versunken zu sein. Je näher seine Heimat kam, desto verschlossener wurde er. Etwas beschäftigte ihn, doch was es war, sagte er nicht. Überhaupt sprach er sehr wenig über seine häuslichen Verhältnisse. Er hatte weder Frau noch Kinder, das wusste sie. Ebenso wusste sie, dass er in seiner Eigenschaft als einer der Zehn im königlichen Palast lebte, nach seiner Beschreibung ein riesiges, verschachteltes Gebäude mit einer unüberschaubaren Zahl von Zimmern, Korridoren und Treppenschächten. Dort, so hatte er versichert, werde man ihr Gastfreundschaft gewähren. Seinen Worten nach zu schließen, gab es dort eine primitive Kanalisation, Anschars Räume besaßen sogar ein eigenes Bad. Doch sehr viel mehr erzählte er von sich nicht.
Sie hatte ihn gefragt, ob es Hadurs unverständlicher Angriff war, der ihn so beschäftigte, und er hatte es bejaht. Doch sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er erleichtert gewesen war, einen so glaubwürdigen Grund in den Mund gelegt bekommen zu haben.
»Ich bin fertig«, sagte sie, nachdem sie aus dem Wasser gestiegen war. Sofort kehrte er zu ihr zurück und half ihr auf das Sturhorn. Anfangs hatte er sich lustig darüber gemacht, wie sie, breitbeinig auf der Kruppe sitzend, ihr Gewand ordnete, damit es die Beine bedeckte. Mittlerweile sagte er auch dazu
nichts mehr. Er schwang sich vor sie in den Sattel und straffte die Zügel, um das Tier dazu zu bewegen, das Maul aus dem Bach zu nehmen.
»Wie kommen wir eigentlich dort hinauf?«, fragte Grazia.
»Durch die schwebende Stadt. Du wirst schon sehen. Pass auf, dass deine Haare nicht herausschauen. Wir wollen nicht mehr Aufsehen als nötig erregen.«
Sie legte die Arme um seine Mitte. Bevor er das Sturhorn zum Weiterlaufen antrieb, sagte sie: »Es ist, weil du deinen Auftrag, den Gott zu bringen, nicht erfüllt hast. Ja?«
Flüchtig erstarrte er. »Nun, ich habe versagt. Sollte mich das freuen?«
»Aber es war doch … ich meine,
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