Das gläserne Tor
du konntest nichts dafür.«
Darauf sagte er nichts mehr. Mit einem Aufschrei trieb er das Tier an, das sich gemächlich in Bewegung setzte. Stunde um Stunde rückte die Hochebene näher, die von einem steppenähnlichen Saum umgeben war. Sie ritten durch Felder mannshohen Grases, das an den Füßen kitzelte. Vereinzelt sah Grazia Sträucher und Bäume, Pinien ähnlich, doch viel niedriger und mit gelblichen, dürren Blättern. Am Fuß der Felswand schälten sich die dunklen Umrisse anderer Sturhörner heraus. Männer saßen darauf, zum Teil auf kunstvollen Sattelaufbauten, die an überdachte Sänften erinnerten. Andere liefen nebenher, bewaffnet mit Speeren und Bogen, und ordneten die Ketten aneinandergebundener Wüstenmenschen, die den Sturhörnern folgten wie ein langer Rattenschwanz.
»Da sind sie, die viel erwähnten Sklavenhändler«, sagte Anschar. »Fettbäuche, die sich an ihnen goldene Finger verdienen. Kaum zu glauben, dass man mich für so einen gehalten hat.«
Ein Mensch, der versklavt zu werden drohte, machte da sicher keinen großen Unterschied, dachte Grazia, doch sie sprach es nicht aus. »Hast du auch Sklaven?«, fragte sie.
»Ja, einen alten Mann. Alt und nutzlos, aber mein.« Überrascht bemerkte sie eine aufflackernde Weichheit in seiner Stimme. Offenbar lag ihm einiges an diesem Sklaven. »Dann noch ein paar, die nur kommen, wenn sie gebraucht werden. Die sind Palasteigentum. Siehst du den Argaden dort?« Er deutete auf einen Mann, der inmitten umherlaufender Menschen stand und sie händeklatschend antrieb. Eine bunte Kaskade von Edelsteinen glänzte in seinem Haar. Fünf Sturhörner weideten eine niedergetrampelte Grasnarbe ab, während die Männer unter seiner Anleitung Kisten und Körbe an die Sättel banden. Vermutlich hatte die Karawane hier ein letztes Mal gerastet, bevor es an den Aufstieg ging. Etwa zwanzig gebundene Männer und Frauen hockten beieinander, hielten sich an den Händen und blickten ängstlich auf die Felswand, die auf sie sicherlich sehr bedrohlich wirkte. »Das ist Fergo, der größte Sklavenhändler des ganzen Hochlandes. Seine Familie besitzt seit Generationen das alleinige Recht, die Königspaläste mit Sklaven zu beliefern.«
Der Sklavenfänger drehte den Kopf nach ihnen, als sie dicht an seinem Lager vorbeiritten. Er schob die Brauen zusammen, als er Anschar sah – und ihn wohl erkannte. Dies taten noch ein paar andere, denen sie begegneten. Grazia bemerkte, dass sie beinahe ängstlich zurückwichen. Einer der Zehn genoss offensichtlich höchsten Respekt.
Angesichts der über ihnen aufragenden Felswand verblasste das Treiben auf der Ebene. Grau und schrundig reckte sie sich weit in den diesigen Himmel, diese Treppenstufe in eine andere Welt. Wie hoch mochte sie sein? Zweihundert Meter? Dreihundert? Vögel nisteten in ihren Nischen, ihr Kreischen hallte über die Ebene. Schwarz hoben sich die Schwärme von
der Wand ab, drehten anmutige Kreise und verschwanden in einer Spalte, die sich von der Felskante bis fast zum Boden erstreckte.
Dies musste die von Anschar erwähnte Schlucht sein. Die Schlucht, die Hersched von Argad trennte. Schwarz und fast glatt, wirkte sie tatsächlich, als habe ein Riese das Plateau mit einem Schwert durchtrennt. An ihren Kanten ragten Mauern auf, wie Fundamente alter Burgen. Darüber erhoben sich helle, glatt verputzte Mauern, doch sehr viel mehr ließ sich von hier unten nicht von den beiden Städten erkennen, die Anschar Heria und Argadye genannt hatte. Nur dass sie groß wirkten, denn die Mauern erstreckten sich weit in beide Richtungen.
Umso erstaunlicher erschien Grazia die Ansammlung von in die Felswand gebauten Hütten, die von der Ebene bis hinauf zu Herias Mauern reichte. Untereinander waren die Hütten mit in den Fels gehauenen Treppen, Brettern und Seilen verbunden. Ein abenteuerliches Chaos, in dem die Menschen scheinbar unbekümmert herumstiegen – eine senkrechte Stadt.
» Das ist die schwebende Stadt?«, platzte Grazia heraus. »Da müssen wir durch?«
»So ist es. Was heißt müssen? Manchem gilt die schwebende Stadt als der schönste Fleck ganz Herscheds.«
»Aber … aber …«, stotterte sie entsetzt. »Mir wird ja jetzt schon schwindlig! Was ist mit den Sturhörnern? Für die muss es doch einen anderen Weg geben.«
»Ja, weiter östlich.«
»Können wir den nicht auch nehmen?«
»Der würde uns noch einen ganzen Tag kosten. Jeder geht durch die schwebende Stadt. Wenn man aus der Wüste kommt, gibt es
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