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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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gegen die Wand und drehte angewidert den Kopf zur Seite.
    »Dieser Ausschlag …«, sagte die Priesterin. Ihre Finger drückten gegen Grazias Kinn.
    »So sah ich vorher schon aus.«
    »Auch das Haar war schon so feurig?«
    »Ja!«, erwiderte Grazia so laut, dass ihre Stimme von den Wänden widerhallte. »Müsste mir ein Wassergott nicht blaue Haare machen?«
    Die Priesterin hob pikiert eine Braue und richtete sich wieder auf. »Du bist ihm über den Weg gelaufen. Das hat bestimmt nichts zu bedeuten. Als die Götter noch auf dem Hochland weilten, kam es immer wieder vor, dass man einen von ihnen sah.«
    Grazia wünschte sich, dass sie recht hatte. Vielleicht war es ja so. Vielleicht hatte der Gott mit seiner Umarmung gar nichts bezweckt, und jeder, den er berührte, verfügte danach über diese Fähigkeit. So war es bestimmt.
    Verzeih mir.
    Sie schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an seine lautlose, aber eindringliche Stimme zu verscheuchen. Was sollte sie verzeihen? Dass er ihr etwas auf die Schultern geladen hatte, das sie nicht tragen konnte?
    »Hat er dich geschwängert?«, fragte die Priesterin.
    »Wie bitte?«
    »Mit dir einen Halbgott gezeugt!«
    Empört schnappte Grazia nach Luft. Mit einer energischen Geste befahl Sildyu den Priestern, sie wieder allein zu lassen. Grazia atmete auf, als sie in irgendwelchen Nebenkammern verschwanden. »Ich will nach Hause«, wiederholte sie kläglich. Sie kam sich wie ein Kind vor. Aber war das ein Wunder? Das alles war zu viel für sie. »Und mir ist schlecht von dem Blutgeruch.«

    Sie musste hinaus, sofort. Ohne auf Sildyu zu achten, hastete sie ins Freie. Dort empfing sie ein Schwall heißer Luft, der schwer zu atmen, aber wesentlich angenehmer war.
    Grazia lehnte sich an einen der Pfeiler und kämpfte mit ihrer Übelkeit. Am liebsten hätte sie ihr Korsett geöffnet, um richtig durchatmen zu können.
    »Sie wollten dich nicht erschrecken«, sagte Sildyu dicht neben ihr. »Opfert ihr euren Göttern denn kein Blut?«
    »Bitte … Du wolltest mir sagen, wie ich nach Hause komme.«
    »Natürlich.« Die Priesterin hakte sich bei ihr unter und führte sie über den Steg. Die Vögel gurrten und hüpften vor ihren Füßen davon. Einer flatterte auf ihren ausgestreckten Arm und kratzte mit dem Schnabel auf der Suche nach Futter über ihre Handfläche. »Die senkrechte weiße Linie auf dem Bild, hast du sie gesehen?«
    »Nein.«
    »Die Knüpfarbeit ist sehr alt. Wer immer sie anfertigte, hatte das Tor gesehen. Oder davon gehört.«
    »Eine weiße Linie ist doch kein Tor«, wandte Grazia ein. Dann dachte sie an das Licht. Ein Tor, das in den Himmel führte? Aber es war im Wasser gewesen. Es hatte sie in die Tiefe gezogen.
    »Wir wissen nicht, wie es wirkt. Nicht einmal, wie es aussieht. Wie Glas, so berichtet eine alte Überlieferung, was immer das heißen mag. Wir wissen nur, dass der Wassergott die Macht hat, es zu rufen und zu öffnen. Die Götter schufen das Tor, als sie das Hochland verließen, und gaben ihm die Macht darüber. Ab und zu gelingt es ihm, der Wüste zu entfliehen, dann ruft er es für sich selbst und wandert durch die Welten, bis die Götter ihn wieder einfangen.«
    »Ist das eine Sage? Oder glaubt ihr das wirklich?«

    »Widerspräche sich das denn? Du hast ihn doch gesehen. Glaubst du nichts davon?«
    »Ich weiß nicht«, murmelte Grazia. Sie befürchtete längst, dass ziemlich viel von all dem der Wahrheit entsprach. Bedächtig streckte sie die Finger nach dem Vogel aus. Er ließ sich streicheln, sein Federkleid war seidig wie das Fell eines jungen Kätzchens. »Wenn ich dieses Tor finde, werde ich es wohl endgültig wissen. Aber wie findet man es? Du hörst dich an, als sei das fast unmöglich.«
    »Ich sagte ja, dass uns wenig darüber bekannt ist. Aber es gibt Hoffnung. In den Ausläufern des Hyregor lebt ein Einsiedler, ein Priester des Inar, der vor vielen Jahren den Tempel verlassen hat, um sich in die Berge zurückzuziehen. Irgendwo dort soll das Tor sein. Oft suchen ihn die Leute aus der Umgebung auf, weil er heilkundig ist und für alle Sorgen ein offenes Ohr hat. Manches Mal erzählt er, dass er wisse, wo das Tor ist. Den Beweis ist er bisher schuldig geblieben, vielleicht will er sich auch nur wichtigmachen, und er weiß gar nichts. Aber wie es aussieht, ist das deine einzige Spur.«
    Der Vogel hüpfte wieder von Sildyus Hand. Fast hatten sie das Ende des Stegs erreicht. Henon stand steif da, als habe er sich nicht von der Stelle

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