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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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erklärte Henon. »Ich weiß nicht genau, was dahinter ist. Kleinere Tempel, Priesterwohnungen, Lagerräume.«

    »Sieh dir das an, Henon. Sieh dir das an!«
    »Ich sehe es, Herrin.«
    Unwillkürlich hatte sie ihn an der Schulter gepackt. Hinter den Bäumen erhoben sich blau geflieste Pfeiler, die in der Sonne gleißten, als würden sie täglich geputzt. Wie Obelisken ragten sie weit in den Himmel, nur waren sie dicker und verjüngten sich nicht. Anstelle pyramidenförmiger Spitzen hatten sie weiße Zinnen, an denen türkisfarbene Bänder flatterten, was, wie Grazia inzwischen wusste, die Farbe Argads war. Zwischen den Pfeilern stand die Sandsteinstatue eines Tieres, das sie längst mühelos identifizieren konnte: Kauernd wie eine Sphinx hockte der Schamindar auf seinem Podest, den Kopf tief gesenkt, eine echsenartige Pfote vorgestreckt, die andere nach unten gedrückt wie zum Sprung. Grazia zählte zwanzig solcher Schamindars entlang des Weges, groß wie Ochsen, die sich gegenseitig zu belauern schienen. Jeder hielt drohend einen seiner drei Schwänze erhoben. Nur einer war seines Schwanzes verlustig gegangen; zwei Männer, wohl Handwerker, standen auf dem Podest, begutachteten den Schaden und stritten sich. Auch an einem der Pfeiler sah Grazia einen Arbeiter, er saß hoch oben in der Schlaufe eines Seils und besserte eine schadhafte Stelle an der Fliesenverkleidung aus.
    »Wenn ich das doch nur festhalten könnte«, seufzte Grazia. Ein Photograph mitsamt Ausrüstung hätte hier sein sollen, nicht sie. Das konnte sie alles unmöglich zeichnen.
    »Wir sind da«, sagte Henon kurz darauf. Die Sänfte setzte mit leichtem Ruck auf. Grazia stieg aus, den Blick auf den See geheftet. Er war klein, und das befestigte Ufer erweckte den Eindruck, es handele sich eher um ein künstlich angelegtes Becken. Ein gemauerter Steg führte zur Seemitte, aus der sich der Tempel erhob, als schwebe er auf dem Wasser. Unschwer ließen sich die Spuren der Trockenheit erkennen. Graue
Ränder an den Ufersteinen und dem Fundament des Tempels zeigten an, wie hoch der Pegel ursprünglich gewesen war. Das Wasser war trübe und voller Algen. Nichtsdestotrotz war der Anblick atemberaubend. Rot und schwarz gefiederte Vögel ließen sich auf den Wellen treiben, die eine leichte Brise warf, und hockten dicht beieinander auf dem Steg.
    »Du musst allein weitergehen, Herrin. Sklaven dürfen nicht auf den See. Und in den Tempel schon gar nicht.«
    Sie bat ihn zu warten, was ihn sichtlich verwunderte, und schritt über den Steg. Die Vögel – mit spitzen, gebogenen Schnäbeln und langen Schwanzfedern – beäugten sie misstrauisch und hoben sich auf die Füße, um ihr langsam aus dem Weg zu gehen. Mücken schwirrten vor ihrem Gesicht. Nicht zum ersten Mal dachte Grazia, dass es in diesem heißen Land angenehm wäre, einen Fächer zur Hand zu haben. Dann ragten die Pfeiler des Portikus vor ihr auf, sicherlich mehr als zehn Meter hoch, mit weiß und blau glänzenden und mit Gold verfugten Fliesen versehen, die so angeordnet waren, dass sie die Abbilder eines Mannes und einer Frau im Profil zeigten. Beide trugen einen schräg gehaltenen Speer; fast sah es so aus, als wollten sie aufeinander losgehen. In der anderen Hand jedoch hielt jeder der beiden eine besänftigende Blüte. Die Augen waren unnatürlich groß dargestellt, mit glänzenden Halbedelsteinen und schwarzem Gestein, vielleicht Obsidian. Beide Augen gemeinsam wirkten auf Grazia, als blicke ein einziges Augenpaar auf sie herab.
    »Herrin.« Ein Mann in einem schlichten weißen Rock kam auf sie zu. »Möchtest du opfern?«
    Sie konnte sich kaum vom Anblick des Götterpaares losreißen. »Opfern? Ach du meine Güte. Du meinst – Tiere?«
    »Ja, natürlich.«
    »Nein!«
    Er zuckte zurück. Sie räusperte sich und sagte etwas
gefasster: »Nein, ich möchte nur zu Sildyu. Sie hat mich hergebeten.«
    Er neigte den Kopf und brachte sie ins Innere. Hier war es angenehm kühl, doch es herrschte ein strenger Geruch, den sie zunächst nicht zu deuten wusste. Sie sah kaum auf ihren Weg, da sie ständig den Kopf im Nacken hatte, um all die vielfarbigen Malereien, die blau, türkis und weiß gefliesten Wände und vergoldeten Reliefs betrachten zu können. Fast wäre sie mit Sildyu zusammengestoßen. Die Hohe Priesterin ergriff ihre Hände und führte sie zu einer steinernen Bank an einer der Wände.
    »Hier können wir in Ruhe reden. Komm.«
    Sie wollte sich auf der Bank niederlassen, doch Grazia hielt sie

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