Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
Vom Netzwerk:
trug an seinem weißen Rock die Farbe Herscheds.
    Er beugte den Rücken vor ihr. Wie alle Sklaven verstand er es mehr oder weniger gut, sein Entsetzen über ihr Äußeres zu verbergen. »Ich komme aus dem Palast von Heria. Es ist dem Sklaven Anschar gestattet, einige persönliche Dinge holen zu lassen. Keine Möbelstücke, keine Waffen, keine Kleider. Nur Kleinigkeiten. Ich werde sie mitnehmen.«
    »Wie geht es ihm? Hast du ihn gesehen?«
    »Ja, Herrin. Aber ich weiß nicht, wie es ihm geht. Er ist schweigsam und abweisend.«
    »Ich werde ihm die Sachen selbst bringen.«
    »Herrin?«
    Fast vergaß er, den Blick gesenkt zu halten, so sehr hatte sie ihn damit überrascht. Und auch sich selbst. Was würde Anschar dazu sagen? Wie sie ihn kannte, handelte sie sich einen Tadel von ihm ein, aber das nahm sie in Kauf. Sie bat den Sklaven, auf dem Korridor zu warten, und zog Henon mit sich in die Wohnung. Er zitterte schon wieder.
    »Mein armer Junge«, jammerte er. »Dass ich ihn nicht mehr sehen konnte – das ist so furchtbar.«
    »Bitte fang nicht an zu weinen, sonst muss ich das auch«, ermahnte sie ihn. »Außerdem ist er kein Junge.«
    Sofort verstummte er. Sie versuchte sich vorzustellen, wie
ihr Vater zu Friedrich sagte, er sei ein Junge, und musste lächeln. Es war undenkbar, und zu Anschar passte es schon gar nicht. »Es ist schlimm für dich, ich weiß.«
    »Herrin, verzeih mir, wenn ich das frage, es ist sehr dreist. Aber würdest du mich mitnehmen? Damit ich mich wenigstens von ihm verabschieden kann?«
    Es zerriss ihr das Herz, doch Anschars Worte, dass Henon keinesfalls nach Heria gehen solle, hatte sie nicht vergessen. »Ich weiß ja noch gar nicht, ob ich ihn zu Gesicht bekomme. Wenn ja, wird es sicher auch möglich sein, dass du ihn siehst. Später einmal. Erst muss ich ihn fragen.«
    Ergeben senkte er den Kopf. Selbstverständlich enthielt er sich jeglichen Widerspruchs, doch er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie bat ihn, alles zusammenzutragen, was sie Anschar bringen sollte. Es war wenig, nur ein paar Papierrollen und ein Kästchen aus dunklem, poliertem Holz. Grazia nahm eine der Rollen in die Hand.
    »Das ist die Geschichte des Helden Meya«, erklärte Henon. »Die hat er als Kind geliebt. Kennst du sie?«
    »Ja, er hat sie mir erzählt.« Sie entrollte das Papier. Es war zerknittert, die Schriftzeichen verblasst. Anschar hatte wohl oft hierin gelesen. »Meya, der alte mythische Held, der jeden Zweikampf gewann und zuletzt von dem Schamindar getötet wurde.«
    »Es heißt, der Schamindar streife durch die Hochebene, auf der Suche nach dem letzten Gott. Er weiß nicht, dass er in der Wüste gefangen ist. Er liebt seinen Herrn und trauert in seinem Herzen. Jetzt weiß ich, wie es ihm ergeht.«
    »Aber Henon, das ist doch bloß eine Geschichte. Oder gibt es dieses Tier wirklich?«
    »Manche behaupten das.«
    Grazia ließ die Rolle zusammenschnappen. Wäre das verwunderlich? Wer auf einem Sturhorn geritten war, dem sollte
die Existenz eines Schamindars nicht mehr abwegig erscheinen. Ihr kam ein Gedanke. Sie holte aus dem Wohnzimmer ihre Zeichnung des Wandbildes und rollte sie in das andere Papier.
    »Du schenkst es ihm?«, fragte Henon sichtlich gerührt. Grazia nickte.
    »Ich zeichne es eben noch einmal ab. Schade nur, dass ich nichts dazuschreiben kann. Er könnte es ja nicht lesen.« Sie klemmte das Kästchen unter den Arm und schob die Rolle unter die Achsel. »Ich gehe sofort los. Was darf ich ihm von dir ausrichten?«
    Seine Miene erhellte sich ein wenig. »Dass ich mich nach ihm sehne. Und gerne für ihn opfern würde, wenn es mir erlaubt wäre. Ich … o Inar, du hast mich überrascht, jetzt fällt mir nichts ein. Die Götter, falls sie auf ihn schauen, sollen ihn beschützen. Er soll nicht nachlassen, darauf zu hoffen, wieder zurück zu dürfen.«
    »Ich sage ihm, dass du ihn liebst.« Ehe sie es sich versah, hatte sie ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt.

    Der Königspalast von Heria ragte kaum weniger hoch und prächtig wie der von Argadye über ihr auf. Sie ging eine breite Freitreppe hinauf und tauchte ein in die kühle Vorhalle, die wesentlich wohlriechender als die des Tempels war. Doch bevor sie Gelegenheit bekam, mehr zu sehen, führte sie der Sklave zu einer unscheinbaren Seitentür, hinter der es schmucklos und dunkel war. Sie folgte ihm einen gewundenen Treppenschacht hinab in die Tiefe, wo es schließlich so düster wurde, dass er eine Fackel aus einer

Weitere Kostenlose Bücher