Das gläserne Tor
freie Frauen oft an diese Krieger gewandt, um sich … nun, der Autor hatte es undeutlich formuliert. Jetzt wusste sie, was gemeint war.
Der pikante Hintergrund raubte dem Mantel etwas von seinem Glanz. Grazia sagte sich, dass sie wirklich anderes im Kopf hatte als Anschars Bettgeschichten. Auch wenn es ihr schwerfiel, den Gedanken daran zu vertreiben.
Neugierig schob Grazia die Kapuze zurück. Es war heiß, und sie wollte alles sehen. Vor ihr tat sich eine Prachtstraße auf. Das Gelände war ein wenig abschüssig, und so konnte sie über die flanierenden Menschenmassen hinweg den Tempel erkennen, dessen weiße Mauern fahl in der Sonne schimmerten. Er stand in einem See; glatt wie Glas spiegelte das Wasser die ockerfarbenen Ziegel der Stadtmauer und das Blau des Himmels.
»Es ist weit bis zum Tempel, oder?«
»Ja, Herrin. Aber du kannst eine Sänfte nehmen.«
»Und du?«
»Ich laufe natürlich nebenher«, erklärte Henon. Mit dieser Antwort hatte sie gerechnet. Sie wollte sich anschicken, die Strecke zu Fuß zurückzulegen, doch der Anblick der vielen
Sänften, die über die Straße schwebten, war zu verlockend. Sie ließ sich von Henon zu einem Sänftenvermieter führen. Eine Droschke wäre ihr lieber gewesen, aber so etwas schien es hier nicht zu geben. Über die Köpfe der Leute hinweg waren bisweilen Bedienstete des Königs zu sehen, die auf Pferden mit schlankem, fast magerem Körperbau ritten. Von Ochsen gezogene Karren rumpelten über die Straße, ja, sogar Sturhörner stapften daher, bis in den Himmel mit Körben, Tonkrügen und prall gefüllten Vogelkäfigen beladen. Allerorten schwebten viereckige Schirme über den Köpfen der Menschen, manche kostbar bestickt, andere aus Gras geflochten. Wie es schien, war es für die Argaden selbstverständlich, ihre Wege zu Fuß zurückzulegen. Es sei denn, man konnte sich eine Sänfte leisten.
»O Henon, ich habe ja gar kein Geld. Was machen wir denn jetzt?«
»Ich habe welches.« Unter seinem Rock holte er eine Schnur hervor, auf die ein paar Münzen gereiht waren. Er führte Grazia an den Straßenrand, wo Sänftenträger saßen und auf Kundschaft warteten. »Du kannst sitzen oder liegen. Welche möchtest du?«
»Die da.« Sie deutete auf einen unüberdachten und ausreichend breiten Tragstuhl. Ein Zweisitzer. Wie erwartet sträubte sich Henon, als sie saß und auf die Sitzfläche neben sich klopfte.
»Nein, nein, Herrin, das geht doch nicht.« Er schüttelte den Kopf.
»Ich will aber nicht getragen werden, während du läufst. Außerdem, wenn ich es möchte, musst du gehorchen, oder nicht?«
Dagegen konnte er nichts einwenden. Er drückte sich in den Sitz, während die vier Träger den Stuhl auf ihre muskulösen Schultern hoben. Grazia krallte sich an der Lehne fest, da
sie befürchtete, das Ding würde kippen. Das war ja fast schon so verwegen wie ein Fahrgeschäft auf dem Rummel. Nach ein paar Schritten gewöhnte sie sich an die sanfte Schaukelei. Nur Henon saß wie ein Häufchen Elend da und kniff sich an ein Ohrläppchen.
»Was machst du denn da? Hilft das gegen Schwindel?«
»Verzeihung! Ich will nur nicht, dass die Leute an meinem Ohrhaken erkennen, wie du neben einem Sklaven sitzt.«
»Henon! Finger weg! Das ist ja schlimm mit dir.«
Er riss die Hand herunter und klemmte sie sich unter die Achsel. Tatsächlich schauten die Leute herauf, aber das lag eher an Grazias Haaren. Es kümmerte sie nicht, denn der Anblick der Prachtstraße war viel zu aufregend. Ein breiter Boulevard, gesäumt von niedrigen Häusern, allesamt mit Flachdächern, auf denen dürre Sträucher wuchsen und Menschen im Schutz der Sonnensegel saßen. Die Gebäude hatten eine offene Front, von Pfeilern durchbrochen, und Außentreppen, über die geschmeidige Frauen hinaufstiegen, Schalen und Krüge auf dem Kopf balancierend, die sie den im Schatten sitzenden Männern brachten. Überall herrschte Geplapper, Gelächter, Vogelgeschrei, und ständig weinte jemand. Die Menschen von Argad verbargen ihre Gefühle nicht. Grazia erinnerte sich daran, wie seltsam sie Anschars Tränen empfunden hatte, damals in Tuhrods Zelt. Ob Männer oder Frauen weinten, das war hier anscheinend einerlei.
Schlanke Bäume mit rissiger Rinde tauchten beidseits der Straße auf und verwandelten sie in eine Allee. Die kleinen Häuser wichen weiß getünchten und mit Reliefs verzierten Mauern, und das Volk lichtete sich. »Was verbirgt sich dahinter?«, fragte sie.
»Das gehört alles zum Tempelgelände«,
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