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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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zurück. Über der Bank hing ein Wandteppich aus dünnen, gefärbten Grasfäden, die kunstvoll miteinander verknüpft waren; sie glänzten wie lackiert. Ihr stockte der Atem. Der Gott, den die Tapisserie zeigte, ähnelte dem Mann auf dem Steg, nur war er stilisiert dargestellt – ein nackter Mann mit schwarzem Haar, das fast bis zur Taille reichte. Er stand vor einem Wald aus roten, lilienförmigen Blumen, nach denen er die Hände ausstreckte. Blaue Linien führten von seinen Fingerspitzen hinunter auf das Blütenmeer.
    »Das ist der Gott, dem das Götterpaar den Namen wegnahm und den es in die Wüste sperrte, weil er ihnen nicht folgen wollte«, erklärte Sildyu.
    »Was tut er da?«, fragte sie unbehaglich.
    »Er bewässert die Heria.«
    »Die Heria?«
    »Ja, die Blume, die aus der Erde spross, überall dort, wo Inar im wilden Liebesspiel mit Hinarsya seinen Samen hinschleuderte. Die Stadt wurde nach ihr benannt. Heute gibt es nur noch wenige Blumen dieser Art in Hersched. Das Land ist am stärksten von der Dürre betroffen.«

    »Und ihr hofft darauf, dass der Gott das tut, wie es dort abgebildet ist, ja?«
    Sildyu setzte sich auf die Bank, schlug ein Bein über das andere und umklammerte ihr Knie. »Eschnamar, der Anschar begleitete, hatte geglaubt, er werde es tun. Meine Zweifel waren größer. Aber das ist ja nun alles hinfällig.«
    Grazia ließ sich an ihrer Seite nieder. Ein Mädchen, vielleicht eine Tempeldienerin oder Novizin, brachte ein Tablett, auf dem eine Karaffe aus milchigem Glas stand, dazu zwei Kupferbecher. Grazia bedankte sich höflich und nippte daran. Dann stellte sie den Becher ein ganzes Stück weit von sich entfernt auf die Bank.
    »Wie, glaubt ihr, soll es sonst gelingen, den Fluch zu beenden?«
    »Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass der alte Krieg zwischen uns und dem fernen Land Temenon der Grund ist. Aber das hilft uns nicht weiter, denn wir können die Entfernung bis dorthin nicht zurücklegen, um Frieden zu schließen. Madyur-Meya tut alles, was in seiner Macht steht, um die Auswirkungen des Fluches abzumildern. Allein seiner umsichtigen Herrschaft ist es zu verdanken, dass das Leben noch seinen gewohnten Gang geht. Nicht wenige Menschen denken nur dann an den Fluch, wenn sie auf dem Markt ihr Geld lassen müssen.«
    »Oder wenn sie eine Muschel sehen.«
    Sildyu lächelte. »Oder das. Noch lassen sich die Bäuche füllen. Madyur-Meya ist nach langer Zeit der Erste, der wieder den Titel des alten Helden Meya trägt. Zu Recht!«
    Grazia nickte langsam. Sie kannte die Geschichte ja längst. Madyur-Meya galt den Menschen hier als Glück im Unglück, als einer der größten Herrscher seit den Zeiten des mythischen Helden Meya.
    »Wenn er den Gott hätte, was täte der dann?«, fragte sie.
»Ich meine, ließe er Wasser aus seinen Händen fließen? Oder wie stellt ihr euch das vor?«
    »Ja, das wäre möglich. Aber wir wissen es nicht. Warum fragst du das?«
    »Oh.« Grazia knabberte an einem Daumennagel. »Nur so.«
    »Dich scheint der Gott zu interessieren.«
    »Ja, nun ja.« Mit einem Mal fühlte sie sich furchtbar müde. »Ich habe ihn gesehen«, sagte sie. »Leibhaftig. Er hat mich sogar berührt. Ich verstehe das alles nicht. Nur eins weiß ich: Ich will nach Hause.«

    Fünf weiß gekleidete Männer und Frauen sahen auf sie herab. Sildyu saß noch immer neben ihr. Es tat wohl, ihre Hand zu spüren, dennoch bewirkte auch ihre beruhigende Gegenwart nicht, dass Grazia sich offenbarte. Sie malte sich aus, was mit ihr geschähe, wüssten sie die ganze Wahrheit. Vielleicht würde man sie irgendwo festbinden und zwingen, tagein, tagaus Wasser zu machen. Bis ans Ende ihres Lebens, und sie würde nie wieder nach Hause zurückkommen. Womöglich hatte sie schon viel zu viel gesagt.
    »Der Gott ist seinem Wüstengefängnis entkommen und begegnete dir auf seiner Flucht«, sagte ein schmächtiger Mann, dem der weiße Rock weit um die Hüften fiel. »Das heißt, er ist frei!«
    »Nein«, widersprach ein anderer, an dessen Rock Blutspritzer klebten. Hatte er ein Tier geopfert? Stammte der Geruch, den Grazia schon die ganze Zeit in der Nase hatte, von geopfertem Blut? »Sie hat doch gesagt, er sei zurück in das Licht gezogen worden. Die Götter haben ihn wieder eingefangen und an Ort und Stelle weggesperrt. In die Oase.«
    »Hat dich die Berührung irgendwie verändert?« Eine Frau beugte sich herab und streckte die Hand nach ihr aus. Unter
ihren Fingernägeln klebte Blut. Grazia drückte sich

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