Das gläserne Tor
Wandhalterung nehmen und an dem winzigen Flämmchen einer Öllampe, die von der Decke hing, entzünden musste. Grazia war nun froh um ihren Mantel, auch wenn der dünne Stoff sie nicht wärmen konnte. Weiter ging es in die Tiefe und durch grob
aus dem Felsen gehauene Gänge hindurch. Ständig kamen Sklaven vorüber, die Blicke streng zu Boden geheftet. Falls sie sich über die Anwesenheit einer so edel gekleideten Frau wunderten, zeigten sie es nicht. Nach einer Weile verbreiterte sich der Gang. Hier reihten sich Türen an Türen.
»Die Sklavenunterkünfte«, erklärte ihr Begleiter.
»Ist er … hier?«
»Ich weiß es nicht. Herrin, du musst erst mit dem Aufseher sprechen. Er heißt Egnasch, und alles, was hier unten geschieht, liegt in seiner Hand. Er muss das entscheiden.« Er blieb vor einer Tür stehen, klopfte und wartete. Dann öffnete er sie und lugte vorsichtig hinein. »Er ist nicht da. Ich werde ihn holen. Bitte warte hier.«
Er drückte sich ans Türblatt, damit sie hineingehen konnte, und verschwand. Auch hier brannte eine Lampe und enthüllte die traurige Umgebung. Kahle Wände, Spinnweben in den Ecken. Eine Pritsche mit Wolldecken, denen ein muffiger Geruch entströmte. Ein Bohlentisch mit einem Stuhl dahinter. Über der Lehne hing eine Peitsche. Getrocknetes Blut klebte an den Enden der Schnüre, während die eingearbeiteten Bronzekugeln wie poliert glänzten.
Grazia stellte den Kasten auf dem Tisch ab, legte die Rolle dazu und kehrte auf den Gang zurück. Niemand war zu sehen, also öffnete sie die anderen Türen. Die Räume dahinter waren auch nicht anders. In den meisten befanden sich nur Matten oder Matratzen, und auf manchen lagen Männer und auch Frauen und schliefen. Die Tür am Ende des Ganges führte zu einem großen Schlafsaal, in dem die Matratzen dicht an dicht lagen. In einem geziegelten Herd brannte ein Feuer, aber die Kälte vermochte es kaum zu vertreiben.
Welch ein schrecklicher Ort. Und hier sollte Anschar leben? Gar für immer?
Als sie harte Schritte vernahm, kehrte sie rasch in die Kammer
des Aufsehers zurück. Kaum war sie am Tisch, wurde die Tür aufgerissen.
»Ja?«
Ein kleiner, stiernackiger Mann mit Glatzkopf betrat den Raum, eine Peitsche in der Hand. Schweißgeruch wallte ihr entgegen, als er sich näherte. Sie musste sich zwingen, nicht zurückzuweichen, doch glücklicherweise blieb er einige Schritte entfernt stehen. Er schien nicht recht zu wissen, wie er sich ihr gegenüber benehmen sollte; sein Lächeln schwankte zwischen erzwungener Höflichkeit und Belustigung angesichts ihres Haares, das er ausgiebig anstarrte.
»Bist du Egnasch?«, fragte sie. Dass dieser Mann Anschar Befehle erteilen durfte, wollte sie sich nicht einmal vorstellen.
Er nickte.
»Ich bin gekommen, um Anschar dies hier zu bringen.« Grazia legte die Hand auf den Kasten. »Es wurde ihm erlaubt«, fügte sie schnell hinzu.
»Das stimmt«, brummte er. »Ich gebe ihm das Zeug.«
»Ich möchte es ihm selbst geben.«
»Bist du seine letzte Liebschaft?«
»Das verbitte ich mir!«
Er neigte den Kopf, aber er machte nicht den Eindruck, als reue es ihn. »Hab noch nie gehört, dass eine Frau hierherkam, um einen Sklaven zu besuchen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob das gestattet ist.«
»Entscheidest nicht du das?«
»Nicht, wenn es um Anschar geht.«
»Dein König kennt mich. Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hätte«, sagte sie fest, auch wenn sie eher das Gegenteil glaubte. Und Egnasch ebenso, wie sie an seinem skeptischen Stirnrunzeln sah.
»Anschar ist sowieso nicht da. Du wirst mir schon vertrauen
müssen, dass ich ihn nicht bestehle. Aber erst muss ich nachprüfen, was das für Sachen sind.«
Das tat er mit gewichtiger Langsamkeit. Er rückte sich den Stuhl zurecht, hing sorgfältig die Peitsche zu der anderen und nahm Platz. Dann wischte er sich die Hände an seinem speckigen Kittel ab, griff nach den Papierbögen und rollte sie auseinander. »Bilder? Was soll er denn damit? Und das da? Was steht da? Ich kann nicht lesen.«
»Es sind Geschichten.«
»Geschichten? Erst dieses sonderbare Buch, und jetzt Geschichten – na, egal, ist ja nicht meine Sache. Das kann er meinetwegen kriegen.« Er ließ die Bögen wieder zusammenschnappen und schob sie beiseite, um das Kästchen in Augenschein zu nehmen und zu schütteln. »Was haben wir denn hier? Scheint nicht viel darin zu sein. Na, schauen wir nach.«
Er öffnete es und schlug den Deckel zurück. Grazia kam in den Sinn, dass
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