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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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passierte?
    Kühl wurde es unter ihrer Hand. Sie riss die Augen auf. Wahrhaftig, der Becher war bis zum Rand gefüllt, das Wasser schwappte über. Mit einem Aufschrei warf sie ihn von sich, sodass er auf dem Boden zersprang, und hüpfte aus dem Bett.
    »Das gibt’s doch nicht, das gibt’s doch nicht«, murmelte sie, während sie die Scherben auflas und dabei lauschte, ob jemand wach geworden war. Vom Stuhl am Bettende riss sie ihr Beinkleid und trocknete die Dielen. Das konnte es nicht geben! Sie musste träumen. Ja, das war die einzig denkbare Erklärung: Sie lag immer noch krank im Bett und schlief. Jedoch, wenn dies ein Traum war, dann war es auch der Mann selbst gewesen, und dann hätte es die drei müden Tage im Bett nicht gegeben. Nein, nein, all dies geschah wirklich!
    Ich sollte es Vater erzählen, überlegte sie. Oder Friedrich?
Aber sie würden nur wieder den Doktor rufen und sie bis auf weiteres in ihrem Zimmer einsperren. Oder gleich in die Irrenanstalt. Grazia schüttelte sich vor Entsetzen. Nein, das taten sie natürlich nicht, aber sie wären sehr erschrocken. Nichts mehr würde sein wie zuvor. Grazia durfte es niemandem erzählen. Höchstens Justus, der hätte für derartige märchenhafte Vorgänge am ehesten Verständnis.
    Sie löschte die Kerze und schlüpfte zurück ins Bett. Wenigstens war die Decke halbwegs trocken geblieben. Sie zog sie sich über den Kopf, aber an Schlaf war nicht zu denken. Was sollte sie tun? Vielleicht gar nichts, außer darauf aufzupassen, dass ihr so ein Malheur nicht wieder passierte. Doch wie konnte sie eine solche Fähigkeit ignorieren? Ständig würde sie daran denken müssen. Es kam ihr vor wie ein Fluch, der sie womöglich eines Tages den Verstand kosten würde.
    »Er hat mich gebeten, ihm zu verzeihen«, flüsterte sie in die Stille. Deshalb? Weil er sie … verändert hatte? Ihr Herz krampfte sich zusammen, und das nicht nur, weil sie sich vor dem, was sie unversehens zu tun imstande war, fürchtete. Angst hatte in seinen Augen gestanden, in diesen seltsamen silbernen Augen. Er hatte trotz seiner heftigen Umarmung so hilflos gewirkt, beinahe zart. War er überhaupt ein Mensch gewesen? Aber wenn er keiner war, was war er dann?
    Grazia warf die Decke zurück und atmete tief auf. Hier zu liegen und die Gedanken kreisen zu lassen, machte alles nur noch schlimmer. Sie stieg aus dem Bett, schlüpfte in den Morgenmantel und tastete sich aus dem Zimmer. Glücklicherweise war niemand von dem Zerspringen des Bechers wach geworden, es herrschte tiefe Stille. Als sie am Schlafzimmer der Eltern vorbeiging, hörte sie den Vater schnarchen. Leise öffnete sie die Tür zum Jungenzimmer und schlich sich an Justus’ Bett. Auf seinem Bauch lag aufgeklappt ein Buch. Der Kurier des Zaren .

    »Justus«, flüsterte sie und schüttelte ihn. Ihr Bruder grunzte, rieb sich die Augen und setzte sich widerwillig auf.
    »Ist’s wirklich schon Zeit zum Aufstehen? Ich bin doch gerade erst eingepennt.«
    »Pscht.« Sie setzte sich zu ihm an die Bettkante, klappte das Buch zusammen und legte es beiseite. »Was liest du auch heimlich im Bett?«
    »Och, tust du doch auch«, murrte Justus. »Was ist denn los? Brennt es?«
    »Nee. Pass auf, ich will gleich nachher in der Frühe auf die Pfaueninsel.«
    »Was?« Erst jetzt schien er richtig aufzuwachen, denn er machte große Augen. »Das hat dir der Fried… ich meine, der Herr Mittenzwey doch verboten?«
    Sie lächelte. Hatte der neugierige Bengel das also mitbekommen. »Ja, und Papa auch. Da sind sie beide einer Meinung. Ich muss aber auf die Insel. Wenn ich Glück habe, ist Friedrich noch nicht dort, und keiner merkt es.«
    Bewunderung angesichts so viel Wagemutes, den er ihr wohl nicht zugetraut hätte, blitzte in seinen Augen auf. »Nimmst du mich mit?«
    »Das geht nicht.«
    »Wieso denn nicht?«
    Abwehrend hob sie den Finger. »Hör zu: Bevor du zur Schule gehst, sagst du, ich sei im Grunewald spazieren. Nach drei Tagen Herumliegen muss man sich ja die Beine vertreten. Sie werden deswegen zwar schimpfen, aber sie werden es glauben. Sag, ich sei mit der Eisenbahn gefahren und am Bahnhof Grunewald ausgestiegen.«
    »Na, hoffentlich krieg ich wegen dir nicht den Hosenboden stramm gezogen«, sagte Justus so ernst, dass Grazia sich kaum das Lachen verbeißen konnte.
    »Ich werde mich für dich in die Bresche werfen, wenn das
passiert«, versprach sie ihm. »Du darfst aber keinem sagen, dass ich weiter zum Wannsee fahre.«
    »Ist gebongt. Aber dann

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