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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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noch«, sagte der Fahrgast ihr gegenüber und zwinkerte ihr zu. Grazia lächelte höflich. Er zog aus der Rocktasche eine Tageszeitung und faltete sie auseinander. Auf der unteren Hälfte der Titelseite, eingerahmt von Reklame für allerlei Wundermittelchen, stand ein Artikel über den Grabfund. »Ein havelländisches Troja?«, hieß es da arg reißerisch. Man liebte es, Bezüge zu Troja herzustellen, aber selbst Grazia, die ihr archäologisches Wissen für bescheiden hielt, wusste, dass das unsinnig war. Der Text ließ sich kaum entziffern, zu lesen war nur, dass der Kaiser höchstpersönlich Geldmittel fließen lassen wollte, damit die Sensation ans Tageslicht kam. Verwunderlich war das nicht, Wilhelm II. war sowohl an fortschrittlicher Technik als auch an der Vergangenheit interessiert. Aber dass Friedrich ihr das nicht erzählt hatte, enttäuschte sie. War sie für ihn nur ein nettes Mädchen, das nichts im Kopf hatte? Sie, die Tochter eines Philologen? Eine, die ein mehr oder weniger hübsches
Modell hergab, um den Schmuck zu tragen, die aber ansonsten in ihrem Zimmer am besten aufgehoben war? Ärgerlich schnaufend stopfte sie ihr Buch in die Handtasche. Der Zug fuhr ohnehin in den Bahnhof Wannsee ein. Die Bremsen quietschten, ein Ruck ging durch Grazia, sodass sie sich an der Sitzbank festhalten musste. Sie beeilte sich, auf den Bahnsteig zu kommen, wo es durchdringend nach verbrannter Kohle roch. Am Ausgang warteten die Kutscher neben ihren Kremsern auf Fahrgäste. Grazia wäre gern gelaufen, doch dazu war es zu weit, also legte sie den Weg zur Fähre mit einer Droschke zurück. An der Ablegestelle angekommen, steckte sie vorsichtig den Kopf aus dem Fenster. Niemand war hier, nur der Fährmann hockte vor seinem Häuschen und las eine Zeitung. Grazia stieg aus, bezahlte den Kutscher und sah ihm zu, wie er das Gespann wendete. Erst dann wandte sie sich an den Fährmann, denn jetzt ging ihr auf, dass sie gar nicht auf die Insel konnte, ohne dass Friedrich davon erfuhr.
    »Hab ick det Frollein nich schon neulich jesehn?«, fragte der Mann, nachdem er sie übergesetzt hatte und ihr beim Aussteigen half.
    Grazia setzte eine steife Miene auf. »Ja, in Begleitung von Herrn Mittenzwey.«
    »Ach ja, der Herr Archäologe! Der is schon fleißig bei die Arbeet.«
    O nein!, dachte sie. Welch ein Pech.
    »Und ick hatte mich schon jewundert, dat Sie alleene unterwegs sind. Na, det is ooch en Ding, wa? Alte Knochen uff meene Insel!«
    Lachend nahm er einen Groschen entgegen. Grazia beeilte sich, das Fährhaus hinter sich zu lassen und durch einen offenen Laubengang in die kunstvoll angelegte Gartenlandschaft einzutauchen. Gottlob war sie hier allein, sodass sie stehen bleiben und ihre Gedanken sammeln konnte. Hinter dem
Garten ragte das weiße Ruinenschlösschen auf, das Friedrich Wilhelm II. vor hundert Jahren hatte bauen lassen. Auf dem sorgfältig gepflegten Rasen stolzierte ein Pfau, seine Schleppe elegant hinter sich herziehend. Ihr Erscheinen bedachte er mit einem nervösen Rucken des Kopfes. Eine Pfauenhenne schrie. Sein Hals wurde länger, dann trippelte er auf das Schloss zu, als sei es selbstverständlich, dass es für einen Vogel wie ihn keinen angemesseneren Ort für ein Rendezvous gab. Grazia runzelte die Stirn. Friedrich würde wohl kaum ähnlich erfreut auf sie zueilen.
    Der Gedanke, er könne sie stören, wenn sie auf den Fremden traf, missfiel ihr. Und wie sollte sie ihr Hiersein erklären? Einfach sagen, sie habe sich die Grabungsstätte ansehen wollen? In der Früh? Sie würde ihre Nervosität ohnehin nicht verbergen können, aber vielleicht hatte sie Glück, und er bemerkte sie gar nicht. Sie ging durch einen Rosengarten, vorbei an Eichen und Winterlinden, deren welke Blüten den Boden benetzten, und blieb im Schatten einer Kiefer stehen, vor sich einen runden Springbrunnen, in dessen Mitte eine hohe sprudelnde Säule stand. Stockenten schwammen im Wasser und ließen sich nicht stören, als sie an die Einfassung trat und die Finger benetzte. Sie blickte zurück zum Schloss, das durch die Blätter der Bäume schimmerte. Der Zauber der Insel nahm sie gefangen. Preußens Arkadien nannte man sie, und es war wahrhaftig so, als sei man in einer verwunschenen Welt, mit ihren pittoresken Gebäuden zwischen knotigen Eichen und Büschen. Vögel pfiffen, Pfauen balzten, und das Wasser der Fontäne gischtete ihr ins Gesicht. Gern hätte sie hier verweilt und vergessen, was sie herführte. Als ihr Blick auf den schmalen

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