Das gläserne Tor
hab ich bei dir was gut! Was willst du da eigentlich?«
Sie zuckte mit den Achseln. Wie sollte sie das erklären? So genau wusste sie es ja selbst nicht. Nachsehen, ob das Licht noch da war. Ob er da war und mit ihr sprach. Ihr Antworten gab. »Schlaf weiter. Das erzähle ich dir dann später.«
»Na jut. Hier«, Justus nahm seine Taschenuhr vom Nachttisch und drückte sie ihr in die Hand. Er hatte sie erst vor wenigen Wochen zum Geburtstag geschenkt bekommen und trug sie seitdem immer bei sich. »Damit du deinen Zug nicht verpasst.«
»Danke«, sagte sie gerührt, drückte ihn in die Kissen und deckte ihn zu. Dann ging sie zur Tür, wo sie beschwörend den Finger an den Mund legte, und schlich zurück in ihr Zimmer. Hier fand sie keinen Schlaf mehr, ihr Herz klopfte aufgeregt. Als es hell zu werden begann, beschloss sie, dass es Zeit war. Adele stand immer als Erste auf, setzte das Waschwasser in der Küche auf und weckte die Eltern, sobald es erhitzt war. Bis dahin musste Grazia fort sein. Es würde seltsam erscheinen, dass sie das Frühstück nicht abgewartet hatte. Nun, ihre Eltern würden glauben, dass sie sich habe fortstehlen wollen, damit sie niemand zurückhielt, was ja auch stimmte. Schlimmstenfalls handelte sie sich eine Ohrfeige ein; aus dem Alter, den Hintern versohlt zu bekommen, war sie heraus. Und Stubenarrest hatte sie ja gewissermaßen schon. Welche Folgen es auch nach sich zog, sie konnten nicht schlimmer sein als die Ungewissheit. Sie musste noch einmal zurück, musste nach dem geheimnisvollen Fremden sehen. Darauf hoffen, dass er sich erklärte. Falls er dort war und nicht tot am Grund lag!
Sie trat zur Waschschüssel, stellte sich mit geschlossenen
Augen davor und ließ die Hände über dem Porzellan schweben. Zunächst tat sich nichts, aber dann spürte sie einen kühlen Luftzug an den Handinnenflächen, als halte jemand Eisstücke darunter. Es plätscherte. Die Schüssel füllte sich. Es war einfach unglaublich, geradezu beängstigend. Gerne wäre sie hinausgelaufen, um alle zu wecken und das Kunststück vorzuführen. Andererseits, wollte sie diese Fähigkeit, oder was immer es war, behalten? Geheuer war sie ihr nicht, aber immerhin ersparte sie ihr jetzt, in die Küche zu schleichen und den Hahn aufzudrehen, was Adele sicherlich gehört hätte. Rasch beugte sie sich über die Schüssel und sog einen Schluck auf. Das Wasser war kühl und wohlschmeckend wie sonst keines. Wie reines Quellwasser.
Grazia richtete sich auf und wischte bedächtig die Tropfen vom Kinn. Wenn es nun giftig war! Nein, der Fremde hatte ihr auf solche Weise gewiss nicht schaden wollen.
Sie wusch sich und kleidete sich an. Ohne helfende Hand war es mühselig, das Korsett zu schnüren. Ganz zu schweigen vom Drapieren der gelockten Haare. Den schiefen Knoten verbarg sie unter einem weißen Hut, den sie mit Nadeln feststeckte. Dann schlüpfte sie in ihr Sommerjäckchen, steckte Theodor Fontanes Havelland-Band, an dem sie gerade las, in die Handtasche und hängte sie sich an den Arm.
Eine halbe Stunde später saß sie im Zug, das Buch auf dem Schoß.
Pfaueninsel! Wie ein Märchen steigt ein Bild aus meinen Kindertagen vor mir auf: ein Schloß, Palmen und Känguruhs, Papageien kreischen, Pfauen sitzen auf hoher Stange oder schlagen ein Rad, Volièren, Springbrunnen, überschattete Wiesen, Schlängelpfade, die überall hinführen und nirgends; ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark.
Der Zug ruckte, rasselte und zischte. Grazia sah auf und
klappte das Buch zu. Es fiel ihr schwer, sich auf die Lektüre zu konzentrieren. Sie hatte gehofft, Ablenkung darin zu finden, doch die Gedanken glitten immer wieder zu dem, was sie mit ihren Händen – oder Gedanken – zu schaffen imstande war. Dagegen war ihr heimlicher Ausflug kaum der Rede wert, nur deshalb wagte sie ihn überhaupt. Sie wünschte sich, alles wäre vorbei und wie zuvor. Sie wünschte sich, Friedrich hätte dieses Grab nie gefunden, denn dann wäre sie nicht in der Nähe des Stegs gewesen und alles andere nicht passiert.
Und doch war es nicht nur die Furcht, die ihr Herz pochen ließ. Wann war das Leben so aufregend gewesen? Abenteuer kannte sie nur aus Büchern. Nicht einmal der seltene Anblick eines Motorwagens, der vom Zug überholt wurde, und dessen Chauffeur fröhlich winkte, da sich alle Zugreisenden, die an den Fenstern saßen, die Nasen platt drückten, konnte sie jetzt beeindrucken.
»Wenn das so weitergeht, fliegen wir
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