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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Weg fiel, der zur Grabungsstätte führte, straffte sie sich und ging weiter. Sie musste sich unziemlich durch die Büsche schlagen, um zum Ufer zu gelangen. Glücklicherweise gab es zu so früher Stunde keine Ausflügler, die
sie dabei beobachten konnten. Sie verbarg sich hinter einer Buche und reckte vorsichtig den Hals.
    Auf der Lichtung, nur wenige Schritte entfernt, lag Friedrich bäuchlings und mit aufgekrempelten Ärmeln im Gras und wühlte in der Grube. Einiges hatte sich hier verändert. Ein meterhoher Zaun umstand weitläufig die Grabungsstelle, und statt des Meiers waren gleich mehrere Arbeiter damit beschäftigt, Friedrich zur Hand zu gehen. Ein junger Mann, vermutlich ein Student, saß an einem Klapptisch, vor sich eine Schachtel, und notierte etwas in einer Kladde. Knochen lagen in der Schachtel, soweit Grazia erkennen konnte. Die Männer unterhielten sich, wobei sie nicht von ihren Tätigkeiten aufsahen, auch dann nicht, als Grazia langsam zum nächsten Baum schlich. Was, wenn Friedrich jetzt den Kopf hob? Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Würde er ihr zürnen? Gar die Verlobung lösen?
    Das Rauschen der Blätter verriet, dass es zu regnen anfing. Die Männer sprangen auf und schickten sich an, die Plane über die Grube zu werfen. Grazia nutzte die Ablenkung, um im Schutz der Bäume zum Ufer zu laufen. Da war auch schon der Steg. Unschuldig ragte er in die Havel. Nichts erinnerte an das, was hier geschehen war. Die Holzbohlen waren ein wenig getrocknet, sodass die Regentropfen dunkle Flecken hinterließen. Hoffentlich gab es nicht wieder so einen heftigen Guss wie vor drei Tagen. So oder so würde Grazia nass werden, da sie nicht daran gedacht hatte, ihren Schirm mitzunehmen. Vielleicht sollte sie unter dem Blätterdach warten, bis es vorbei war, und dann nach Hause fahren. Was erhoffte sie sich auch von diesem Ausflug? Der Fremde war fort, versunken vor ihren Augen, und lag vielleicht tot auf dem Grund.
    Ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, als sie den Steg betrat. Langsam schritt sie ihn ab und starrte rechts und
links ins Wasser. Trüb war es, grünlich. Algen und winzige schwarze Fische schwammen darin, aber tiefer als einige Handbreit konnte sie nicht blicken. Schließlich stand sie auf dem letzten Brett. Ihr war schwindlig, vermutlich von der langen Wegstrecke. Gern hätte sie sich hingesetzt, aber dazu war der Steg zu feucht. Warum nur hatte sie ausgerechnet ihr weißes Sonntagskleid angezogen? Plötzlich erschien ihr der Ausflug so lächerlich und dumm, dass sie sich auf dem Absatz umdrehte. Augenblicklich würde sie sich wieder an Friedrich vorbeistehlen, um heimzufahren, das hoffentlich erträgliche Donnerwetter der Eltern über sich ergehen zu lassen und für die nächsten Tage in ihrem Zimmer zu bleiben.
    Und dann? Wollte sie auf ewig an diese Begegnung zurückdenken und sich den Kopf darüber zermartern? Irgendwo hier musste die Antwort auf ihre Fragen zu finden sein. Sie versuchte in die Tiefe zu schauen und sich gegen den Anblick eines Leichnams zu wappnen, der womöglich genau in diesem Moment auftrieb. Ihr schauderte es, und als sie das Licht sah, musste sie einen leisen Schrei unterdrücken.
    Es war schwach. Kaum wahrnehmbar für jemanden, der nicht wusste, dass es da war. Sie beugte sich vor. Dass dort unten etwas leuchtete, erschien ihr so unfassbar wie bei ihrem letzten Besuch hier. Und noch seltsamer – je länger sie hinschaute, desto stärker wurde es. An den Rändern waberten Wasserpflanzen, deutlich beleuchtet. Ein Fisch verschwand im Lichtkreis, als werde er darin verschluckt, doch dann kam er auf der anderen Seite wieder hervor.
    »Grazia!«
    Sie fuhr herum. Am Ufer stand Friedrich, Hose und Hemd beschmutzt, die Arme bis zu den Ellbogen voller Schlamm. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Fassungslosigkeit und Ärger. Dann stapfte er auf sie zu, so heftig, dass der Steg ins Wanken geriet.

    »Ich hatte dir doch gesagt … du hattest es mir versprochen! Grazia, was soll das?«
    »Bitte, Friedrich.« Es fiel ihr schwer, nicht heiser und schuldbewusst zu klingen. »Mach mir keine Szene.«
    »Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Nur dass ich enttäuscht bin. Das genügt fürs Erste, ansonsten reden wir später darüber.« Auf einmal war er so dicht bei ihr, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte. Er hob die Hand, um sie am Ellbogen zu berühren, aber dann schien er sich darauf zu besinnen, wie dreckig er war. »Ich bringe dich nach Hause zu deinen

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