Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
Gewinnung des wünschenswerten Verhältnisses zur Elite war es vor allem die Beamtenschaft des Archivs, deren er sich als freundlicher, aber wachsamer Herr zu versichern hatte, auch die Kanzlei war in der Struktur ihres Amtsganges zu studieren und einzuordnen, und immer wieder kam eine Menge Briefpost, und immer wieder riefen Sitzungen oder Rundschreiben der Gesamtbehörde ihn zu Pflichten und Aufgaben, deren Verständnis und richtige Einordnung zu finden dem Neuling nicht leicht fiel. Es handelte sich dabei nicht selten um Fragen, in welchen die Fakultäten der Provinz interessiert und gegeneinander zur Eifersucht geneigt waren, Kompetenzfragen etwa, und nur allmählich, aber mit wachsender Bewunderung, lernte er die ebenso geheime wie mächtige Funktion des Ordens kennen, der lebendigen
Seele des kastalischen Staates und des wachsamen Hüters ihrer Verfassung.
So waren strenge und überfüllte Monate hingegangen, ohne daß in Josef Knechts Gedanken Raum für Tegularius gewesen wäre, außer daß er, es geschah halb instinktiv, dem Freunde mancherlei Arbeit auftrug, um ihn vor zu viel Muße zu bewahren. Fritz hatte seinen Kameraden verloren, es war über Nacht ein Herr und höchster Vorgesetzter aus ihm geworden, zu dem er keinen privaten Zutritt mehr hatte, dem er gehorchen und den er mit »Ihr« und »Ehrwürdiger« anreden mußte. Doch nahm er, was der Magister über ihn verfügte, als Fürsorge und Zeichen persönlichen Gedenkens auf, sah sich auch, der etwas launische Einzelgänger, teils durch die Erhöhung des Freundes und die höchst angeregte Stimmung der ganzen Elite mit in Aufregung versetzt, teils durch jene ihm aufgetragenen Arbeiten in einer ihm zuträglichen Weise aktiviert; jedenfalls ertrug er die völlig geänderte Lage besser, als er selbst seit jenem Augenblick gedacht hätte, in dem ihn Knecht auf die Nachricht hin, daß er zum Glasperlenspielmeister bestimmt sei, von sich geschickt hatte. Auch war er sowohl klug wie mitfühlend genug, die ungeheure Anstrengung und Kraftprobe teils zu sehen, teils wenigstens zu ahnen, welche sein Freund in dieser Zeit zu bestehen hatte; er sah ihn im Feuer stehen und ausgeglüht werden, und was etwa Empfindsames da
bei zu erleben war, erlebte er vermutlich lebhafter als der Geprüfte selbst. Tegularius gab sich bei den Aufträgen, die er vom Magister zugewiesen bekam, die größte Mühe, und wenn er seine eigene Schwäche und seine Nichteignung zu Amt und Verantwortung je ernstlich bedauert und als Mangel empfunden hat, so war es damals, wo er sich sehr gewünscht hat, als Gehilfe, als Beamter, als »Schatten« dem Bewunderten zur Seite zu stehen und Hilfe zu leisten.
Die Buchenwälder über Waldzell begannen sich schon zu bräunen, da nahm Knecht eines Tages ein kleines Buch mit sich in den Magistergarten neben seiner Wohnung, diesen kleinen hübschen Garten, den der verstorbene Meister Thomas so sehr geschätzt und mit horazischer Liebhaberhand oft selbst gepflegt hatte, den Garten, welchen Knecht, wie alle Schüler und Studenten, einst als eine ehrwürdige Stätte, als den geheiligten Erholungs- und Sammlungsort des Meisters sich wie ein zauberhaftes Museneiland und Tuskulum vorgestellt und den er, seit er selbst Magister und Herr des Gartens war, so selten betreten und noch kaum je in Muße genossen hatte. Auch jetzt kam er nur für eine Viertelstunde, nach Tisch, und gönnte sich nur ein paar Schritte sorglosen Auf- und Abwandelns zwischen den hohen Sträuchern und Stauden, unter denen sein Vorgänger manche immergrüne Pflanzen des Südens angesiedelt hatte. Dann trug er, denn es war im Schatten
schon kühl, einen leichten Rohrstuhl auf einen sonnenbeschienenen Platz, setzte sich und schlug das mitgebrachte Büchlein auf. Es war der »Taschenkalender für den Magister Ludi«, den vor etwa siebzig oder achtzig Jahren der damalige Glasperlenspieler Ludwig Wassermaler verfaßt hatte und der seither von jedem seiner Nachfolger mit einigen zeitgemäßen Korrekturen, Streichungen oder Ergänzungen, versehen worden war. Der Kalender war als ein Vademecum für die Magister, namentlich die noch unerfahrenen in ihren ersten Amtsjahren, gedacht und führte denselben durch das ganze Arbeits- und Amtsjahr hindurch von Woche zu Woche die wichtigsten ihrer Pflichten vor Augen, manchmal nur mit Stichworten, manchmal ausführlicher beschreibend und mit persönlichen Ratschlägen versehen. Knecht suchte das Blatt für die laufende Woche und las es aufmerksam durch. Er
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