Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
des Junggesellentums, über die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen und so weiter [äußerten] . . . Es kam dabei einzig darauf an, einen bekannten Namen mit einem gerade aktuellen Thema zusammenzubringen.« Im Widerstand gegen diese Ära des Personenkults, der
Korruption, der Desorientierung und Käuflichkeit der Intellektuellen, der moralischen Verwahrlosung, der Inflation der Begriffe, der Entwertung der Sprache und dilettantischen Überproduktion in allen Künsten habe sich eine heroische Gegenbewegung entwickelt. Eines ihrer Zentren sei der Bund der Morgenlandfahrer gewesen, denen das Buch daher auch gewidmet ist, weil ihnen die Achtung und Pflege bewährter Traditionen, der selbstlose Dienst am humanistischen Erbe der Kultur wichtiger war als einträgliche Mimikry an den Zeitgeschmack.
Eine »winzig kleine, tapfere, halb verhungerte aber unbeugsam gebliebende Schar von wahrhaft Geistigen begann . . . in asketisch-heroischer Selbstzucht sich eine Ordnung und Konstitution zu geben, begann überall in kleinen und kleinsten Gruppen wieder zu arbeiten«, aufzuräumen mit den Schlagworten und ganz von unten auf in Form eines weltlichen Ordens, der sich zu einer Insel der Spiritualität, einem Staat der Geistesarbeiter im Staate entwickelt, um für die Reinerhaltung und Sicherung des geistigen Lebens zu sorgen und ein reformiertes Schul-, Forschungs- und akademisches Bildungswesen aufzubauen. Sein Fundament ist das Glasperlenspiel, das sich in Deutschland und England aus den Anfängen einer bildungsbürgerlichen Merk- und Kombinationsübung zum Instrument für eine interdisziplinäre Kommunikation entwickelt habe. Erfunden wur
de es an der Kölner Musikhochschule von dem Verfasser einer Abhandlung über »Blüte und Verfall der Kontrapunktik«, einem Bastian Perrot aus Calw. Dieser habe auf einem naiven Kugelzählapparat mit Glasperlen musikalische Motive kontrapunktisch abgewandelt und sie – wie auf dem heute noch in Japan gebräuchlichen Kugelzähler Abakus – mit den vier Grundrechenarten in Beziehung gebracht.
Über einen Zeitraum von 300 Jahren sei diese Technik in der pädagogischen Provinz Kastalien (benannt nach der den Musen geweihten delphischen Quelle Kastalia) auf eine Weise verfeinert und differenziert worden, daß damit »sämtliche Inhalte und Werte unserer Kultur ausgedrückt werden konnten«. Wie man aus Notenzeichen ein Musikstück, aus mathematischen Symbolen eine algebraische oder astronomische Formel ablesen kann, so habe das Glasperlenspiel in den folgenden Jahrhunderten eine weltumspannende Symbolsprache entwickelt, die es ermöglicht, Gedanken, Formeln, Musik und Dichtung in einer graphischen Codierung wiederzugeben. Ein Generalnenner vereinigt die unterschiedlichen Disziplinen und ermöglicht es, ihre Inhalte in verschiedenen Koordinatenreihen abzuwandeln, zu transponieren und miteinander in Beziehung zu setzen. Besonders fruchtbar für die Entwicklung des Spieles war die Einbeziehung von Mathematik und Musik, äußerster Abstraktion mit unmittelbarster Sinnlichkeit, die sich
auch hier nicht als unvereinbare Gegensätze, sondern als verwandte Bereiche bewährten. Erst durch sie soll das Spiel eine Elastizität erreicht haben, welche die Ergebnisse fast aller übrigen Disziplinen aufnehmen konnte und nicht nur eine Versöhnung der Wissenschaften mit den Künsten, sondern am Ende sogar mit den Religionen herbeigeführt habe.
Neben dem Dienst an der Wahrheit, der Meditation und der Verehrung des Schönen wird in Kastalien genau das herbeigeführt, was im kriegerischen 20. Jahrhundert bekämpft und bedroht war: die freie Entfaltung und Ausbildung des Menschen ohne staatliche Manipulation, die Unabhängigkeit der Wissenschaft und Kultur von profitorientierten und politischen Zwecken. Das dort geübte Glasperlenspiel fördert ein neues Bewußtsein der Einheit und Zusammengehörigkeit aller durch Spezialisierung, Nationalismen, Ideologien und Konfessionen auseinanderentwickelten Bereiche der Wissenschaft und Künste und weckt ein zunehmendes Bedürfnis nach Orientierung des allgemeinen Verhaltens an den harmonikalen Gesetzen der Musik (insbesondere der des 15.-18. Jahrhunderts) und mit den Proportionen des organischen Lebens in der Natur.
Mit zunehmender Forschung habe sich schon gegen Ende des »feuilletonistischen Zeitalters« die scheinbare Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaft mehr und mehr geschlossen. Immer offensichtlicher
zeigte es sich, daß die von den
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