Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
Geisteswissenschaften erfaßten Prozesse sich nicht nur im gleichen Kausalsystem wie dem der Natur vollzogen und durch ähnliche Chiffren erfaßbar waren wie die naturwissenschaftlichen, sondern daß auch umgekehrt naturwissenschaftliche Abläufe übertragbar waren und zum Beispiel scheinbar nur physikalische Gesetze wie das von der Leistung (die um so größer ist, je weniger Zeit für eine Arbeit benötigt wird) oder wie der Erhaltungssatz der Energie nicht allein auf chemische oder biologische, sondern durchaus auch auf psychische Vorgänge, ja sogar auf die Kunst angewendet werden konnten. Man hatte erkannt, in wie enger Anlehnung an die Konstruktionspläne der Natur die zeitlosen Kunstwerke der Menschheit entstanden waren. Ja, es zeigte sich geradezu: je genauer die Literatur, die bildenden Künste und die Musik mit den Strukturen und Proportionen des Lebendigen übereinstimmten, desto unvergänglicher waren sie. So begann man auch Kunstwerke allmählich als Modelle oder Versuchsanordnungen zu begreifen, die der Hauptforderung der exakten Wissenschaften nach Rekonstruierbarkeit gerecht wurden, wenn auch auf umfassendere und komplexere Weise. Es hatte sich erwiesen, daß die Kunst im hochdifferenzierten Regelsystem der Natur auf dem Weg der Synthese genau das befolgte und intuitiv vorwegnahm, was dann meist viel später die Wissenschaft auf dem Weg der
Analyse als effizient und sinnvoll entdeckte. Die »Subjektivität des Künstlers« wurde nicht mehr, wie noch im feuilletonistischen Zeitalter, ausgespielt gegen die »Objektivität des Wissenschaftlers«, sondern man war sich bewußt geworden, daß sich Subjektivität und Objektivität zueinander verhielten wie der Mikrokosmos zum Makrokosmos, daß also bei einer präzisen Darstellung des Individuellen Strukturen freigelegt werden, die weit über das Spezielle des Einzelfalles hinausweisen. Gleichzeitig mit den zunächst nur von den Naturwissenschaften erkannten und genutzten Beziehungen und Gemeinsamkeiten zwischen den Fakultäten habe das Glasperlenspiel in der Zeit um 2030 unter dem Einfluß des Schweizer Musikgelehrten und Mathematikers Lusor Basiliensis nach und nach alles, was die Menschheit an Erkenntnissen, an Kulturen und Mythologien schuf, in jener internationalen Zeichensprache zu codieren vermocht, welche es – vergleichbar den alten chinesischen Schriftzeichen – erlaubt, das Komplizierteste mit einem Minimum an Symbolen und doch ohne Verzicht auf persönliche Phantasie und Kreativität auszudrücken.
Die definitive Fassung des Vorwortes, an welchem Hesse seit 1932 arbeitete, war die vierte. Sie entstand im Mai/Juni 1934 und wurde im Dezemberheft 1934 der »Neuen Rundschau«, Berlin, vorabgedruckt.
In einem Brief, den Hesse am 9.1.1943 an seinen Freund Otto Engel (den Herausgeber der philosophi
schen Werke des Kierkegaard-Übersetzers Christoph Schrempf) gerichtet hat, räumt er ein, daß seine Utopie vom künftigen Glasperlenspiel primär von der Idee, nicht von der Anschauung herkomme. Da aber die Abstraktion dichterisch eine Unmöglichkeit sei, habe er dafür sorgen müssen, sie auch sinnlich nachvollziehbar zu machen, ihr also durch die Schilderung der Biographie eines exemplarischen Glasperlenspielers »einiges Blut mitzugeben«.
Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht
Der Hauptteil des Werkes besteht aus der in zwölf Kapiteln erzählten Biographie Josef Knechts, aufgezeichnet von einem kastalischen Chronisten, dem die Archive und die ganze schriftliche und mündliche Überlieferung zur Verfügung standen. An dieser Biographie hat Hesse etwa sieben Jahre, von 1935 bis 1943, gearbeitet. Sieben Kapitel daraus wurden in den Jahren 1938 bis 1942 vorabgedruckt, vier davon in der von Peter Suhrkamp im S. Fischer Verlag betreuten »Neuen Rundschau«. Drei weitere Kapitel erschienen in der Zeitschrift »Corona«, die von den Schweizern Martin Bodmer und Herbert Steiner in München und Zürich herausgegeben wurde. Dies waren die einzigen reichsdeutschen Blätter, in denen
Hesse nach 1935 noch publizierte, und die einzigen auch, die seine neueren Arbeiten zu drucken wagten.
Josef Knecht, der spätere Glasperlenspiel-Meister Magister Ludi Josephus III , lebt in einem Zeitalter jenseits des 20. Jahrhunderts, nachdem die inflationäre Wort- und Papierflut der kriegerischen und der feuilletonistischen Epoche überwunden ist, mit deren Beschreibung das Vorwort endet.
In dieser Zeit gibt es neben dem üblichen, staatlich organisierten
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