Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
gut durchgeführte Spiel als Zuhörer miterlebt, und es war mir manche große Erhebung und manche beglückende Einsicht dabei zuteil geworden; doch war ich bis dahin über den eigentlichen Wert und Rang des Spieles an sich immer wieder zu Zweifeln geneigt gewesen. Am Ende konnte ja jede gut gelöste Mathematikaufgabe geistigen Genuß bringen, jede gute Musik konnte beim Hören, und noch weit mehr beim Spielen, die Seele erheben und ins Große dehnen, und jede andächtige Meditation konnte das Herz beruhigen und es zum Einklang mit dem All stimmen; aber eben darum war doch vielleicht das Glasperlenspiel, so sagten meine Zweifel, nur eine formale Kunst, eine geistreiche Fertigkeit, eine witzige Kombination, und dann war es besser, dies Spiel nicht zu spielen, sondern sich mit sauberer Mathematik und guter Musik zu beschäftigen. Jetzt aber hatte ich zum erstenmal die innere Stimme des Spieles selbst vernommen, seinen Sinn, sie hatte mich erreicht und durchdrungen, und seit jener Stunde bin ich des Glaubens, daß unser königliches Spiel wirklich eine lingua sacra, eine heilige und göttliche Sprache ist. Du wirst dich erinnern, denn du selbst hast damals bemerkt, daß eine Wandlung in mir vorgegangen war und ein Ruf mich erreicht hatte. Ich kann ihn nur jenem unvergeßlichen
Ruf vergleichen, der einst mein Herz und mein Leben verwandelt und emporgehoben hat, da ich als kleiner Knabe vom Magister Musicae geprüft und nach Kastalien berufen worden bin. Du hast es bemerkt, das spürte ich damals wohl, wenn du auch kein Wort darüber sagtest; wir wollen auch heute nichts weiter darüber sagen. Aber nun habe ich eine Bitte an dich, und um sie dir zu erklären, muß ich dir sagen, was sonst niemand weiß und wissen soll, nämlich, daß mein derzeitiges Herumstudieren keiner Laune entspringt, daß ihm vielmehr ein ganz bestimmter Plan zugrunde liegt. Du entsinnst dich, in großen Zügen wenigstens, jener Glasperlenspielübung, die wir damals als Schüler im dritten Kurs mit Hilfe des Leiters aufbauten und in deren Verlauf ich jene Stimme vernahm und meine Berufung zum Lusor erlebte. Nun, jenes Übungsspiel, das mit einer rhythmischen Analyse des Themas zu einer Fuge begann und in dessen Mitte ein angeblicher Satz des Kungtse stand, jenes ganze Spiel von Anfang bis zu Ende studiere ich jetzt, das heißt, ich arbeite mich durch jeden seiner Sätze durch, übersetze ihn aus der Spielsprache in seine Ursprache zurück, in Mathematik, in Ornamentik, in Chinesisch, in Griechisch usw. Ich will, wenigstens dies eine Mal im Leben, den ganzen Inhalt eines Glasperlenspiels fachmäßig nachstudieren und nachkonstruieren; den ersten Teil habe ich schon hinter mir und habe zwei Jahre dazu
gebraucht. Es wird natürlich noch manche Jahre kosten. Aber da wir nun einmal unsre berühmte Studienfreiheit in Kastalien haben, will ich sie eben auf diese Art benützen. Die Einwände dagegen sind mir bekannt. Die meisten unsrer Lehrer würden sagen: wir haben in einigen Jahrhunderten das Glasperlenspiel erfunden und ausgebaut, als eine universale Sprache und Methode, um alle geistigen und künstlerischen Werte und Begriffe auszudrücken und auf ein gemeinsames Maß zu bringen. Nun kommst du und willst nachprüfen, ob das auch stimme! Du wirst dein Leben dazu brauchen und wirst es bereuen. Nun, ich werde nicht mein Leben dazu brauchen und hoffe es auch nicht zu bereuen. Und nun meine Bitte: da du zur Zeit im Spielarchiv arbeitest und ich aus besonderen Gründen Waldzell noch für eine gute Weile meiden möchte, sollst du mir je und je eine Anzahl Fragen beantworten, das heißt, mir in der nicht gekürzten Form jeweils die offiziellen Schlüssel und Zeichen für allerlei Themata aus dem Archiv mitteilen. Ich rechne auf dich und rechne darauf, daß du, sobald ich dir irgendwelche Gegendienste leisten kann, über mich verfügst.«
Vielleicht ist hier der Ort, auch jene andre Stelle aus Knechts Briefen mitzuteilen, welche sich auf das Glasperlenspiel bezieht, wenn auch der betreffende Brief, an den Musikmeister gerichtet, mindestens ein oder zwei Jahre später geschrieben wurde. »Ich den
ke mir«, schreibt Knecht seinem Gönner, »daß man ein ganz guter, ja virtuoser Glasperlenspieler sein kann, ja vielleicht sogar ein recht tüchtiger Magister Ludi, ohne das eigentliche Geheimnis des Spieles und seinen letzten Sinn zu ahnen. Ja es könnte sein, daß gerade ein Ahnender und Wissender, wenn er zum Fachmann im Glasperlenspiel oder dessen Leiter würde,
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