Die Erben des Terrors (German Edition)
Prolog
10. Februar 2013
12° 53’ 36.32” Nord, 61° 10’ 57.53” West
50 Meter vor der Nordküste von Mustique, St. Vincent und die Grenadinen
Alexander Rybak konnte es nicht fassen, was er gerade im Radio gehört hatte. In Nischnjaja Tura, einem zwanzigtausend-Seelen-Ort im zentralen Ural, waren 10.4 Grad Außentemperatur gemeldet worden.
Das erste V erwunderliche an der Meldung war die für die Jahreszeit ungewöhnlich hohe Temperatur. Das zweite Ungewöhnliche war, dass Rybak seit fast fünfzig Jahren täglich den Wetterbericht hörte, und Nischnjaja Tura nicht ein einziges Mal erwähnt worden war. Und das dritte war, dass am Vortag die Temperatur in Lukojanow im Osten Russlands 10.4 Grad betragen hatte. Die aber, so die Radiomoderatorin, sei falsch berichtet worden und betrage eigentlich minus 10.4 Grad.
Rybak schaltete seinen Weltempfänger aus, das Rauschen verstummte und um ihn herum kehrte die Ruhe ein, a n die er sich so gewöhnt hatte. Er hörte nur noch das leise Plätschern der Wellen an seinem Boot. 10.4 Grad, dachte Rybak und öffnete sein Barfach an der Backbordseite. Er nahm eine Flasche Rum heraus, ging auf die gegenüberliegende Seite und öffnete ein anderes Schapp, um sich ein Glas zu nehmen. 10.4 Grad, wiederholte er in Gedanken, und verzichtete auf das Glas. Nach fast 50 Jahren war es tatsächlich so weit.
Er stieg die alte, aber solide Treppe aus frisch geöltem Lärchenholz nach oben. Rybak setzte sich ins Cockpit, er brauchte Luft, er musste atmen. Mit den ersten Sonnenstrahlen des Tages nahm er einen tiefen Schluck aus der Flasche. Es war ein ausgezeichneter, karibischer Rhum Agricole aus Martinique.
D as Boot, das seit neunundvierzig Jahren sein Zuhause war, wirkte plötzlich klein und eng. Mit dem zweiten Schluck Rum sah er die orange glühende Korona der Sonne über dem orangebraunen Meer auftauchen. Dieser Sonnenaufgang veränderte seine Welt. Doch nicht nur Rybaks Welt, sinnierte er, früher oder später würde dieser Sonnenaufgang die gesamte Welt verändern. 10.4 Grad, hatte die Radiomoderatorin gesagt.
•
„Sir Alexander“, hörte Rybak von hinter ihm auf dem Wasser. Es war eine vertraute Stimme, aber so früh? Er sah auf seine Uhr, eine Breitling Navitimer, die immer noch so präzise lief wie am ersten Tag. Zu Beginn seiner Reise war der Chronograph ein unverzichtbares Werkzeug gewesen. Heute nutzte er die Uhr so, wie die meisten anderen Menschen auch: Zum Ablesen der Uhrzeit. Sechs Uhr und fünfzig Minuten – Luis war nicht zu früh, er war fünf Minuten zu spät. Aber Luis war nie zu spät – wie oft hatte er schon gerufen? Wie abwesend war Rybak, fragte er sich. Wie konnte er überhört haben, dass das Dinghy des jungen Luis Ceasar, ein pfiffiger junger Geschäftsmann, zu seinem Boot gefahren war? Ein Blick auf die Flasche Rum erklärte einiges – die Hälfte fehlte.
10.4 Grad, dachte er ein weiteres Mal. „Guten Morgen, Luis“, sagte er zu dem sechzehnjährigen, dunkelhäutigen Insulaner, der jeden Tag, pünktlich um vie rtel vor sieben, an seinem Boot gewesen war. Er bedankte sich kurz und ungewohnt schroff, als der junge Mann ihm eine dünne Plastiktüte mit Lebensmitteln übergab.
Eine sanfte Brise trieb den Duft gekochter Bananen auf das Boot, auch die Insel schien aufzuwachen. Essen, dachte sich Rybak, ist in der aktuellen Situation vielleicht besser als Alkohol, und nahm eine Banane aus der Plastiktüte. Ban anen waren in seinen Augen das einzig Negative an den Grenadinen – die Bauern auf der Insel hatten offenbar eine rege Begeisterung für die gelben Früchte entwickelt und weitestgehend ignoriert, dass man auch andere Sachen anpflanzen kann. Aber Bananen schmeckten wunderbar, vor allem in Verbindung mit einem Glas Rum.
Ein Blick in die Bucht zeigte ihm, dass Luis mit seinem Dinghy weiter zur nächsten Yacht getuckert war, einem brandneuen und sicher über eine halben Million Dollar teu eren Katamaran, der am Vorabend angekommen war und auf dem bis weit nach Mitternacht lautstark gefeiert wurde. Franzosen, dachte sich Rybak, die haben es sicher eilig und sind bald wieder weg, sodass er bald wieder seine himmlische Ruhe haben würde, genau wie das nette alte britische Pärchen auf der alten Ketsch.
Zu dem britischen Schiff hinüberblickend sah er die Schweizer Flagge seines e igenen Bootes kaum bewegt an ihrem Flaggenstock hängen. Die britische, so dachte er, sei viel schöner – die Flagge, nicht das Boot. Dieses, eine etwa fünfundzwanzig
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