Das Glasperlenspiel
einer Organ-, Muskel-, Bänder- und Knochenwelt unter der Epidermis ein Schema bestätigt findet, das er in sich selber mitbrachte. Wenn der Anatom aber nur noch sein Schema sieht und die einmalige, individuelle Wirklichkeit seines Objekts darüber vernachlässigt, dann ist er ein Kastalier, ein Glasperlenspieler, er treibt Mathematik am ungeeignetsten Objekt. Wer Geschichte
betrachtet, soll meinetwegen den rührendsten Kinderglauben an die ordnende Macht unsres Geistes und unsrer Methoden mitbringen, aber außerdem und trotzdem soll er Respekt haben vor der unbegreiflichen Wahrheit, Wirklichkeit, Einmaligkeit
-176-
des Geschehens. Geschichte treiben, mein Lieber, ist kein Spaß und kein verantwortungsloses Spiel.
Geschichte treiben setzt das Wissen darum voraus, daß man damit etwas Unmögliches und dennoch Notwendiges und höchst Wichtiges anstrebt. Geschichte treiben heißt: sich dem Chaos überlassen und dennoch den Glauben an die Ordnung und den Sinn bewahren. Es ist eine sehr ernste Aufgabe, junger Mann, und vielleicht eine tragische.«
Unter den Worten des Paters, die Knecht seinen Freunden damals brieflich mitteilte, sei noch eines als charakteristisch aufgenommen.
»Die großen Männer sind für die Jugend die Rosinen im Kuchen der Weltgeschichte, sie gehören auch zu deren eigentlicher Substanz, gewiß, und es ist gar nicht so einfach und leicht, wie man meinen sollte, die wirklich Großen von den Scheingroßen zu unterscheiden. Bei den Scheingroßen ist es der historische Augenblick und dessen Erraten und Anpacken, was den Schein der Größe gibt; es fehlt ja auch nicht an Historikern und Biographen, geschweige denn Journalisten, denen dies Erraten und Erfassen eines geschichtlichen Augenblicks, will sagen: der momentane Erfolg, schon als ein Kennzeichen der Größe erscheint. Der Korporal, der von heut auf morgen Diktator wird, oder die Kurtisane, die es für eine Weile dazu bringt, über die gute oder böse Laune eines Weltherrschers zu regieren, sind Lieblingsfiguren solcher Historiker. Und ideal gesinnte Jünglinge lieben, umgekehrt, am meisten die tragisch Erfolglosen, die Märtyrer, die um einen Augenblick zu früh oder zu spät Gekommenen. Für mich, der ich ja freilich vor allem ein Historiker unseres benediktinischen Ordens bin, sind das Anziehendste, Erstaunlichste und Studierenswerteste in der Weltgeschichte nicht die Personen und nicht die Coups und Erfolge oder Untergänge, sondern meine Liebe und unersättliche Neugierde gilt solchen Erscheinungen, wie unsre Kongregation eine ist, jenen sehr langlebigen Organisationen, in welchen der
-177-
Versuch gemacht wird, vom Geist und der Seele her Menschen zu sammeln, zu erziehen und umzuformen, sie durch Erziehung, nicht durch Eugenik, durch den Geist, nicht durchs Blut zu einem Adel zu machen, der zum Dienen wie zum Herrschen befähigt ist. Mich hat in der Geschichte der Griechen nicht der Sternhimmel von Heroen und nicht das aufdringliche Geschrei der Agora gefesselt, sondern Versuche wie die der Pythagoreer oder der Platonischen Akademie, bei den Chinesen keine andre Erscheinung so sehr wie die Langlebigkeit des konfuzianischen Systems, und in unserer abendländischen Geschichte ist es vor allem die christliche Kirche und sind es die ihr dienenden und eingebauten Orden, die mir als geschicht- liche Werte ersten Ranges erscheinen. Daß ein Abenteurer einmal Glück hat und ein Reich erobert oder begründet, das dann zwanzig oder fünfzig oder sogar einmal hundert Jahre dauert, oder daß ein wohlmeinender Idealist von König oder Kaiser einmal eine redlichere Art von Politik anstrebt oder einen kulturellen Wunschtraum zu verwirklichen sucht, daß einmal unter hohem Druck ein Volk oder eine andre Gemeinschaft Unerhörtes zu leisten und zu dulden fähig war, das alles ist mir längst nicht so interessant, als daß immer wieder der Versuch zu solchen Gebilden gemacht wurde, wie unser Orden eines ist, und daß einige dieser Versuche sich tausend und zweitausend Jahre erhalten konnten. Von der heiligen Kirche selbst will ich nicht reden, sie steht für uns Gläubige oberhalb der Diskussion. Aber daß Kongregationen wie die der Benediktiner, der Do minikaner, später der Jesuiten und so weiter manche Jahrhunderte alt geworden sind und nach all den Jahrhunderten noch, trotz allen Entwicklungen, Entartungen, Anpassungen und
Vergewaltigungen, ihr Gesicht und ihre Stimme, ihre Gebärde, ihre individuelle Seele bewahrt haben, das ist für mich das
Weitere Kostenlose Bücher