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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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wollüstige Angst einer jungfräulichen Märtyrerin empfinden, die sich unter Peitschenhieben lächelnd aufrichtet. Und immer noch strömte, getragen von der Flut der Klänge, die Menschenmasse dahin. Der Vorbeimarsch, der kaum einige Minuten dauerte, schien den jungen Leuten kein Ende zu nehmen.
    Gewiß, Miette war noch ein Kind. Sie war erblaßt beim Nahen des Zuges, sie hatte ihren zerronnenen Zärtlichkeitstraum beweint; aber sie war ein mutiges Kind, eine heißblütige Natur, die leicht in Begeisterung aufflammte. So kam es, daß die Erregung, die sich Miettes nach und nach bemächtigt hatte, sie jetzt zutiefst erschütterte. Sie wurde zum Jungen. Gern hätte sie eine Waffe genommen und wäre den Aufständischen gefolgt. Beim Vorüberziehen der Gewehre und der Sensen schienen ihre weißen Zähne zwischen den roten Lippen länger und spitzer zu werden, ähnlich den Reißzähnen eines jungen Wolfes, der Lust zum Beißen verspürt. Und während sie hörte, wie Silvère mit immer hastigerer Stimme die Abteilungen der Landbevölkerung aufzählte, war es ihr, als nähme bei jedem Wort des Burschen der Schwung der Kolonne noch zu. Bald wurde alles zu einem einzigen Aufbrausen, einer Staubwolke von Menschen, die ein Sturm vor sich herjagte. Alles begann sich vor Miette zu drehen. Sie schloß die Augen. Schwere, heiße Tränen flossen ihr über die Wangen.
    Auch Silvère hingen Tränen in den Wimpern.
    »Ich sehe die Leute nicht, die heute nachmittag Plassans verlassen haben«, flüsterte er. Er versuchte, das Ende der Kolonne zu erkennen, das noch im Schatten verborgen war. Plötzlich rief er freudestrahlend: »Ah, da sind sie! – Sie haben die Fahne, man hat ihnen die Fahne anvertraut!«
    Dann wollte er von der Böschung herunterspringen, um seine Gefährten einzuholen, aber im selben Augenblick machten die Aufständischen halt. Befehle liefen die Kolonne entlang. Die Marseillaise erstarb in einem letzten Grollen, man hörte nur das wirre Gemurmel der noch ganz ergriffenen Menge. Silvère lauschte und konnte so die Befehle auffangen, die von Abteilung zu Abteilung weitergegeben wurden und die Männer von Plassans an die Spitze des Zuges beriefen. Als sich die einzelnen Bataillone am Rand der Straße aufstellten, um die Fahne vorbeizulassen, zog der junge Bursche Miette wieder mit sich auf die Böschung.
    »Komm«, sagte er, »wir werden vor ihnen jenseits der Brücke sein!«
    Und als sie oben angelangt waren, inmitten der Äcker, liefen sie bis zur Mühle, deren Wehr den Fluß staut. Hier überquerten sie die Viorne auf einer Planke, die die Müller über das Flüßchen gelegt hatten. Dann eilten sie schräg über die SainteClaireWiesen, immer Hand in Hand, immer laufend, ohne ein Wort zu wechseln. Die Kolonne bildete auf der Landstraße eine dunkle Linie, der sie längs der Hecken folgten. Es gab Lücken im Weißdorn. Durch eine dieser Lücken sprangen Silvère und Miette auf die Straße.
    Trotz des Umwegs, den sie gemacht hatten, kamen sie gleichzeitig mit den Leuten aus Plassans an. Silvère schüttelte einigen von ihnen die Hand. Man mochte annehmen, daß er von der veränderten Marschroute der Aufständischen erfahren habe und ihnen entgegengekommen sei. Miette, deren Gesicht durch die Mantelkapuze halb verborgen war, wurde neugierig betrachtet.
    »Ach, das ist ja die Chantegreil«, sagte ein Mann aus der Vorstadt, »die Nichte von Rébufat, dem Halbpächter vom JasMeiffren.«
    »Wo kommst du denn her, du Landstreicherin?« rief eine andere Stimme.
    Silvère, ganz benebelt von Begeisterung, hatte nicht daran gedacht, welch seltsame Rolle seine Liebste bei den unausbleiblichen Späßen der Arbeiter spielen mußte. Miette war völlig verwirrt und sah ihn wie um Schutz und Hilfe flehend an. Aber noch bevor er den Mund auftun konnte, ertönte eine neue Stimme aus der Gruppe und sagte roh: »Ihr Vater ist im Zuchthaus, die Tochter eines Diebes und Mörders wollen wir nicht dabeihaben!«
    Miette wurde totenblaß.
    »Ihr lügt«, murmelte sie, »mein Vater hat wohl jemanden getötet, aber er hat nichts gestohlen.« Und als Silvère, blasser noch und zitternder als Miette, die Fäuste ballte, flüsterte sie: »Laß! Das hier geht mich an …« Dann wandte sie sich wieder der Gruppe zu und wiederholte laut: »Ihr lügt! Ihr lügt! Niemals hat er irgend jemandem auch nur einen Sou genommen. Das wißt ihr sehr gut. Warum beschimpft ihr ihn, wenn er sich nicht verteidigen kann?« Sie hatte sich hoch aufgerichtet, großartig

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