Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
scheidet, ist die Abgrenzung der einzelnen Viertel durch breite Straßenzüge. Der Cours Sauvaire und die Rue de Rome, die eigentlich nur seine verengerte Fortsetzung ist, laufen von West nach Ost, von der Grand˜Porte zur Porte de Rome, und schneiden so die Stadt in zwei Teile, wobei sie das Adelsviertel von den beiden anderen trennen. Diese wiederum werden voneinander durch die Rue de la Banne abgegrenzt; diese Straße, die schönste des Ortes, beginnt am äußersten Ende des Cours Sauvaire und steigt nach Norden zu an, indem sie links die dunkle Masse der Altstadt und rechts die hellgelben Häuser der Neustadt liegenläßt. Hier, fast in der Mitte der Straße, im Hintergrund eines kleinen, mit kümmerlichen Bäumen bepflanzten Platzes, erhebt sich die Unterpräfektur, ein Gebäude, auf das die Bürger von Plassans sehr stolz sind.
    Wie um sich noch mehr abzusondern und abzuschließen, ist die Stadt von einem Gürtel alter Festungswälle umgeben, die den Ort heute nur düsterer und enger machen. Mit ein paar Flintenschüssen könnte man diese lächerlichen Befestigungen niederlegen, die, von Efeu überwuchert und von wilden Levkojen bewachsen, höchstens die Höhe und Stärke von Klostermauern erreichen. Mehrere Tore durchbrechen sie, von denen die beiden wichtigsten die Porte de Rome und die Grand˜Porte sind. Jene führt auf die Straße nach Nizza, diese auf die Straße nach Lyon, am entgegengesetzten Ende der Stadt. Bis zum Jahre 1853 blieben diese Tore mit riesigen zweiflügligen Holztüren versehen, die oben überwölbt und durch eiserne Bänder verstärkt waren. Im Sommer um elf, im Winter um zehn Uhr wurden diese Türen doppelt verschlossen. Hatte so die Stadt wie eine ängstliche Jungfer die Riegel vorgeschoben, dann schlief sie sorglos. Einem Wächter, der eines von den kleinen, in den Innenwinkeln jeden Portals gelegenen Pförtnerstübchen bewohnte, oblag es, den verspätet Eintreffenden aufzumachen. Das erforderte jedoch lange Verhandlungen. Der Wächter ließ die Leute erst ein, nachdem er durch ein Guckloch ihr Gesicht mit seiner Laterne beleuchtet und aufmerksam geprüft hatte. Gefiel man ihm nicht, so mußte man draußen übernachten. Der ganze Geist dieser Stadt, zusammengesetzt aus Feigheit, Eigennutz, Festhalten am Herkömmlichen, Haß gegen die Außenwelt und frommem Hang zu klösterlicher Abgeschiedenheit, drückte sich in diesem allabendlichen sorgfältigen Verschließen der Tore aus. Hatte sich Plassans gut eingeriegelt, so sagte es sich: »Nun sind wir ganz unter uns!« mit der Zufriedenheit eines frommen Spießbürgers, der sein Abendgebet spricht und sich wohlig zu Bett legt ohne Angst um seinen Geldkasten und in der Gewißheit, von keinerlei Lärm geweckt zu werden. Ich glaube, es gibt keine zweite Stadt, die noch so lange eigensinnig an dem Brauch festgehalten hat, sich wie eine Nonne einzuschließen.
    Die Einwohnerschaft von Plassans zerfällt in drei Gruppen: so viele Stadtteile, so viele kleine Welten für sich. Auszunehmen sind die Beamten, der Unterpräfekt, der Steuerdirektor, der Hypothekenbewahrer, der Postvorsteher, alles wenig beliebte und vielbeneidete Ortsfremde, die nach eigenem Gefallen leben. Die echten Einwohner von Plassans, diejenigen, die hier aufgewachsen und fest entschlossen sind, auch hier zu sterben, achten die überkommenen Gebräuche und die bestehenden Standesunterschiede zu sehr, als daß sie sich nicht von selbst in den Pferch einer der städtischen Gesellschaftsschichten begeben würden.
    Die Adligen schließen sich völlig ab. Seit dem Sturz Karls X.16 gehen sie kaum mehr aus und haben es dann eilig, in ihre großen, schweigsamen Herrenhäuser zurückzukehren, mit verstohlenen Schritten, wie in Feindesland. Sie besuchen niemanden und empfangen nicht einmal ihresgleichen. Die einzigen Stammgäste ihrer Salons sind einige Priester. Im Sommer bewohnen sie die Schlösser, die sie in der Umgegend besitzen; im Winter bleiben sie am warmen Kamin. Es sind Tote, die sich im Leben langweilen. Daher herrscht in ihrem Stadtviertel auch eine dumpfe Friedhofsruhe. Türen und Fenster sind sorgfältig verrammelt; man könnte glauben, eine Reihe von Klöstern vor sich zu haben, in die kein Geräusch der Außenwelt eindringen darf. Von Zeit zu Zeit sieht man einen Abbé vorbeigehen, dessen leiser Schritt längs der verschlossenen Häuser die Stille nur noch tiefer macht und der wie ein Schatten in einer halbgeöffneten Tür verschwindet.
    Der Bürgerstand, die Kaufleute, die

Weitere Kostenlose Bücher