Das Glück der Familie Rougon - 1
in ihrem Zorn. Ihre heißblütige, halbwilde Natur schien die Beschuldigung wegen Mordes ziemlich gleichgültig hinzunehmen. Aber die Beschuldigung wegen Diebstahls brachte sie zum Äußersten. Das war bekannt, und gerade deshalb schleuderte die Menge ihr aus dummer Bosheit diese Anschuldigung oft ins Gesicht.
Der Mann, der soeben ihren Vater einen Dieb genannt hatte, wiederholte übrigens lediglich etwas, was er seit Jahren hörte. Angesichts der Heftigkeit des Mädchens grinsten die Arbeiter. Silvère stand immer noch mit geballten Fäusten da. Die Sache hätte schlimm ausgehen können, wäre nicht einer der SeilleJäger, der sich auf einen Steinhaufen am Wegrand gesetzt hatte, um den Weitermarsch abzuwarten, dem jungen Mädchen zu Hilfe gekommen.
»Die Kleine hat recht«, sagte er. »Chantegreil war einer der Unsrigen. Ich habe ihn gekannt. Seine Angelegenheit ist niemals ganz aufgeklärt worden. Was mich betrifft, so habe ich immer an die Wahrheit seiner Aussagen vor den Richtern geglaubt. Der Gendarm, den er auf der Jagd mit einem Flintenschuß niederstreckte, hatte ihn wahrscheinlich schon selber aufs Korn genommen. Man wehrt sich eben, das ist selbstverständlich. Aber Chantegreil war ein ehrlicher Mann. Chantegreil hat nicht gestohlen.«
Wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, genügte auch hier das Zeugnis dieses Wilderers, daß Miette noch weitere Verteidiger fand. Mehrere Arbeiter wollten Chantegreil ebenfalls gekannt haben.
»Jaja, das ist wahr!« bestätigten sie. »Er war kein Dieb. Es gibt in Plassans Halunken, die man an seiner Statt ins Zuchthaus schicken sollte … Chantegreil war unser Bruder … Laß gut sein, Kleine, beruhige dich!«
Niemals hatte Miette bisher Gutes über ihren Vater gehört. Gewöhnlich hieß man ihn einen Lump, einen Schurken. Und nun traf sie auf einmal rechtschaffene Seelen, die Worte der Entschuldigung für ihn fanden und ihn für einen ehrlichen Mann erklärten. Da brach sie in Tränen aus. Von neuem befiel sie die Erregung, die die Marseillaise in ihr hatte aufsteigen lassen. Sie überlegte, wie sie den Männern danken könnte, die so gut zu der Unglücklichen waren. Einen Augenblick dachte sie daran, ihnen allen die Hand zu drücken wie ein Junge. Aber ihr Herz fand Besseres. Neben ihr stand der Fahnenträger. Sie faßte den Fahnenschaft, und als Dank sprach sie mit flehender Stimme:
»Gebt sie mir, ich will sie tragen!«
Die Arbeiter begriffen mit ihrem einfachen Sinn das KindlichErhabene ihres Dankes.
»So ist es recht«, riefen sie, »die Chantegreil soll die Fahne tragen!«
Ein Holzhauer meinte, daß sie schnell müde werden und nicht weit kommen würde.
»Oh, ich bin kräftig!« entgegnete sie stolz, streifte dabei ihre Ärmel zurück und zeigte ihre vollen Arme, die stark waren wie die einer erwachsenen Frau. »Wartet mal«, sagte sie, als man ihr die Fahne hinhielt. Rasch zog sie ihre Pelisse aus und gleich wieder an, nachdem sie das rote Futter nach außen gekehrt hatte. Und nun trat sie in den hellen Mondschein, angetan mit einem weiten Purpurmantel, der ihr bis auf die Füße herabfiel. Die Kapuze, von ihrem Haarknoten gehalten, saß ihr wie eine phrygische Mütze9 auf dem Kopf. Sie ergriff die Fahne, drückte den Schaft an ihre Brust und stand hochaufgerichtet da, umwallt von den Falten des blutroten Banners, das hinter ihr flatterte. Auf ihrem verzückten Kindergesicht mit seinem Kraushaar, den großen feuchten Augen, den zu einem Lächeln leicht geöffneten Lippen lag ein Zug von kraftvollem Stolz, als sie es zum Himmel emporwandte. In diesem Augenblick ward sie zur Heiligen Jungfrau der Freiheit.
Die Aufständischen jubelten ihr zu. Diese Südländer mit ihrer lebhaften Phantasie waren ergriffen und begeistert bei dem überraschenden Anblick des hochgewachsenen, ganz in Rot gehüllten Mädchens, das ihre Fahne so inbrünstig ans Herz preßte. Einzelne Zurufe wurden in der Gruppe laut: »Großartig, die Chantegreil! Es lebe die Chantegreil! Jetzt bleibt sie bei uns, sie wird uns Glück bringen!«
Man hätte ihr noch lange zugejubelt, wäre nicht der Befehl zum Aufbruch ergangen. Und während sich die Kolonne in Bewegung setzte, drückte Miette Silvère, der sich neben sie gestellt hatte, die Hand und flüsterte ihm ins Ohr: »Hast du gehört? Ich bleibe bei dir. Es ist dir doch recht so?«
Silvère antwortete nicht, sondern erwiderte nur stumm ihren Händedruck. Er war einverstanden. Im übrigen war er so tiefbewegt, daß es ihm
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