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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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unmöglich gewesen wäre, sich nicht ebenso der Begeisterung zu überlassen wie seine Gefährten. Miette erschien ihm so schön, so groß, so heilig! Während der ganzen Zeit, die sie die Anhöhe hinaufzogen, sah er ihr Bild vor sich, strahlend in einem purpurnen Glorienschein. Jetzt vermischte er sie in seiner Vorstellung mit seiner zweiten angebeteten Geliebten: der Republik. Gern wäre er schon am Ziel gewesen und hätte die Flinte geschultert. Aber die Aufständischen marschierten langsam. Es war Befehl gegeben worden, sowenig Lärm wie möglich zu machen. Die Kolonne bewegte sich zwischen den beiden Ulmenreihen voran gleich einer Riesenschlange, an der jeder Ring ein eigentümliches Zittern zeigte. Die eisige Dezembernacht war wieder still geworden, und nur die Viorne schien mit lauterer Stimme zu grollen.
    Von den ersten Häusern der Vorstadt ab lief Silvère voraus, um im SaintMittreHof, der schlafend im Mondschein lag, sein Gewehr zu holen. Als er wieder zu den Aufständischen stieß, waren sie vor der Porte de Rome angekommen. Miette beugte sich zu ihm und sagte mit ihrem Kinderlächeln: »Mir ist, als sei ich bei der Fronleichnamsprozession und trüge die Fahne der Heiligen Jungfrau!«
     

Kapitel II
    Plassans ist Sitz einer Unterpräfektur10 und zählt ungefähr zehntausend Seelen. Auf der Hochebene erbaut, die das Tal der Viorne beherrscht, liegt die Stadt, die sich im Norden an das Bergland der Garrigues11, einen der letzten Ausläufer der Alpen, lehnt, wie am Ende einer Sackgasse. Im Jahre 1851 besaß sie nur zwei Verbindungswege zu den Nachbarorten: die Straße nach Nizza, die gegen Osten abfällt, und die nach Lyon, die nach Westen hinaufsteigt. Die eine bildet in beinahe gleichlaufender Linie die Fortsetzung der anderen. Seit jener Zeit ist eine Eisenbahn gebaut worden, die die Stadt im Süden berührt, am Fuß des Hügels, der in jähem Absturz von den alten Befestigungen zum Fluß hinabfällt. Wenn man heute aus dem auf dem rechten Ufer des Gebirgsflüßchens gelegenen Bahnhof tritt und aufschaut, sieht man die ersten Häuser von Plassans, deren Gärten Terrassen bilden. Man muß eine gute Viertelstunde bergan gehen, bis man diese Häuser erreicht.
    Zweifellos ist es dem Mangel an Verbindungsstraßen zuzuschreiben, daß sich dieser Ort bis vor etwa zwanzig Jahren den frommen und aristokratischen Charakter der alten provenzalischen Städte besser bewahrt hat als irgendein anderer. Plassans besaß damals – wie übrigens auch heute noch – ein ganzes Viertel von Herrenhäusern aus der Zeit Ludwigs XIV.12 und Ludwigs XV.13, ein Dutzend Kirchen, Ordenshäuser der Jesuiten14 und Kapuziner15 und eine ansehnliche Zahl von Klöstern. Die Standesunterschiede blieben dort lange scharf betont durch die Trennung der einzelnen Stadtteile. Plassans hat deren drei, von denen jeder für sich gewissermaßen ein besonderes, in sich abgeschlossenes Städtchen mit eigenen Kirchen, Spazierwegen, Sitten und Anschauungen bildet.
    Das Adelsviertel, nach dem Namen einer seiner Pfarren SaintMarcViertel benannt, ein kleines Versailles mit engen, grasbewachsenen Straßen und großen viereckigen Häusern, hinter denen sich ausgedehnte Gärten verstecken, breitet sich im Süden am Rande der Hochfläche aus. Manche der Herrenhäuser haben, da sie dicht am Abhang errichtet sind, eine Doppelreihe von Terrassen, von wo aus man das ganze Viornetal übersieht, eine wunderbare, im ganzen Lande berühmte Aussicht. Die Altstadt, das ursprüngliche Plassans, stuft im Nordwesten seine engen und gewundenen, von wackeligen Häusern eingefaßten Gassen übereinander; hier befinden sich das Bürgermeisteramt, das Zivilgericht, der Markt und die Gendarmerie. Dieser Teil, der volkreichste von Plassans, wird von Arbeitern und Handeltreibenden bewohnt, von all den fleißigen und elenden kleinen Leuten. Die Neustadt schließlich bildet eine Art längliches Viereck im Nordosten. Die Bürger, solche, die Sou für Sou ein Vermögen zusammengespart haben, und andere, die einen freien Beruf ausüben, leben dort in säuberlich aneinandergereihten, hellgelbverputzten Häusern. Dieses Stadtviertel – durch die Unterpräfektur, einen häßlichen Bau mit Gipsbewurf und Stuckrosetten, geziert – zählte 1851 kaum fünf oder sechs Straßen; es ist erst neuerdings entstanden und der einzige Stadtteil, der sich weiter ausdehnt, namentlich seit dem Bau der Eisenbahn.
    Was noch heute Plassans in drei voneinander unabhängige und deutlich abgesetzte Teile

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