Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
grausam gealtert. Er sah die vom Moos zernagte Mauer, den vom Frost versengten Grasteppich, die vom Wasser modernden Bretterstapel. Es war ein trostloser Anblick. Das gelbe Dämmerlicht fiel wie feiner Staub auf die Überreste seiner zärtlichen Liebe. Er mußte die Augen schließen, und nun sah er wieder den grünen Gang; die glücklichen Zeiten stiegen wieder vor ihm auf. Die Luft war mild, er lief mit Miette durch die Sommerwärme. Dann fiel der Dezemberregen, rauh, endlos; sie kamen dennoch, sie verbargen sich unter den Brettern und lauschten entzückt dem mächtigen Rauschen des Platzregens. Wie im Aufleuchten eines Blitzes zog sein ganzes Leben, sein ganzes Glück an ihm vorüber. Miette sprang von der Mauer, lief auf ihn zu, von hellem Lachen geschüttelt. Sie war hier; er sah sie weiß leuchten im Schatten mit ihrem lebendigen Helm aus tiefschwarzem Haar. Sie plauderte von den Elsternestern, die so schwer auszunehmen sind, und zog ihn mit sich. Da hörte er in der Ferne das gedämpfte Murmeln der Viorne, den Gesang verspäteter Zikaden, den Wind, der in den Pappeln der SainteClaireWiesen rauschte. Wie waren sie doch manchmal gelaufen! Er entsann sich genau. In vierzehn Tagen hatte sie schwimmen gelernt. Sie war ein tapferes Menschenkind. Nur einen großen Fehler hatte sie: sie stibitzte. Aber das würde er ihr abgewöhnt haben. Die Erinnerung an ihre ersten Liebkosungen brachte ihn in den schmalen Gang zurück. Immer waren sie zu diesem Winkel zurückgekehrt. Er glaubte das verklingende Lied der Zigeunerin zu vernehmen, das Klappen der letzten Fensterläden, den ernsten Stundenschlag der Turmuhren. Dann schlug die Stunde der Trennung. Miette kletterte wieder auf die Mauer. Sie warf ihm Kußhändchen zu. Und dann sah er sie nicht mehr. Ein furchtbarer Schmerz schnürte ihm die Kehle zu: niemals mehr würde er sie wiedersehen, niemals.
    »Wie du willst«, höhnte der Einäugige, »geh, such dir deinen Platz aus.«
    Silvère machte noch ein paar Schritte. Er näherte sich dem Ende des Ganges; er sah nur noch einen schmalen Streifen Himmel, an dem das rostfarbene Tageslicht erlosch. Diese Stelle hatte zwei Jahre seines Lebens umschlossen. Das langsame Nahen des Todes auf diesem Pfad, auf dem er so lange seinem Herzen nachgegangen, war von unaussprechlicher Süße. Er zögerte, er genoß lange den Abschied von allem, was ihm lieb war, den Gräsern, dem Holz, den Steinen der alten Mauer, von all den Dingen, die Miette zum Leben erweckt hatte. Und wieder schweiften seine Gedanken ab. Sie warteten, bis sie alt genug waren zum Heiraten. Tante Dide wäre bei ihnen geblieben. Ach, wären sie doch geflohen, weit, ganz weit weg, in irgendein unbekanntes Dorf, wo die Vorstadtschlingel nicht mehr der Chantegreil das Verbrechen ihres Vaters ins Gesicht geschrien hätten! Welch glücklicher Frieden wäre das gewesen! Er würde eine Stellmachern am Rand einer großen Verkehrsstraße aufgemacht haben. Er war gewiß bescheiden in seinem Arbeitsehrgeiz; der Sinn stand ihm nicht mehr nach dem Wagenbau, nach den Kaleschen mit den großen lackierten Flächen, die wie Spiegel glänzten. Benommen durch seine Verzweiflung, vermochte er sich nicht zu entsinnen, weshalb sich sein Traum vom Glück niemals verwirklichen sollte. Warum ging er nicht fort mit Miette und Tante Dide? Als er sein Gedächtnis anstrengte, hörte er das scharfe Krachen von Gewehrfeuer; er sah, wie eine Fahne mit zerbrochenem Schaft vor ihn hinsank, das Tuch hing herab wie der Fittich eines angeschossenen Vogels. In einem Stück der roten Fahne schlief mit Miette die Republik. O Jammer, sie waren alle beide tot! Sie hatten ein blutendes Loch in der Brust, und das war es, was ihm jetzt das Leben versperrte: die Leichen dieser beiden geliebten Wesen. Er besaß nichts mehr, er konnte sterben. Das hatte ihm seit SainteRoure diese verschwommene und blöde kindliche Sanftmut verliehen. Man hätte ihn schlagen können, ohne daß er es gespürt haben würde. Er war gar nicht mehr in seinem Körper; er kniete immer noch bei seiner geliebten Toten unter den Bäumen, im scharfen Pulverqualm.
    Aber der Einäugige wurde ungeduldig; er stieß Mourgue vorwärts, der sich ziehen ließ. Er schimpfte: »So geht doch! Ich habe nicht Lust, hier zu übernachten!«
    Silvère stolperte. Er schaute auf seine Füße herab. Ein Stück von einem Schädel schimmerte weiß im Gras. Er meinte zu hören, wie der schmale Gang von Stimmen erfüllt wurde. Die Toten riefen ihn, die alten Toten, deren

Weitere Kostenlose Bücher