Das Glück der Familie Rougon - 1
seinem Stuhl. Pierre, der von fern die Unterhaltung zwischen seiner Frau und seinem Sohn beobachtete, begriff und wechselte mit ihnen einen Blick des Einverständnisses, der Stillschweigen heischte. Das war wie ein letzter Hauch des Schreckens, der die Rougons inmitten der Lachsalven und der lauten Fröhlichkeit an der Tafel überlief.
Als sie an ihren Platz zurückging, sah Félicité jenseits der Straße hinter einer Fensterscheibe eine brennende Wachskerze; man hielt die Totenwache an der Leiche des Herrn Peirotte, die man am Morgen von SainteRoure herübergebracht hatte. Sie setzte sich und fühlte, wie die Kerze hinter ihr ihren Rücken wärmte.
Doch jetzt ertönte neues Gelächter; der gelbe Salon wurde von einem Schrei des Entzückens erfüllt, als der Nachtisch erschien.
Zu dieser Stunde zitterte die Vorstadt noch vor Entsetzen über das Drama, das soeben den SaintMittre Hof mit Blut befleckt hatte. Die Rückkehr der Truppen nach dem Gemetzel in der Ebene von Nores war von fürchterlichen Vergeltungstaten begleitet. Männer wurden hinter einem Mauerstück mit Gewehrkolben erschlagen; anderen wurde tief unten in einer Schlucht von der Pistole eines Gendarmen der Schädel zertrümmert. Damit das Grauen allen den Mund verschlösse, besäten die Soldaten die Straßen mit Leichen. Man hätte ihnen auf der roten Spur, die sie hinterließen, folgen können. Es war ein langes Abschlachten. Bei jeder Rast machte man ein paar Aufständische nieder. Zwei wurden in SainteRoure getötet, drei in Orchères, einer in Le Béage. Als die Truppe in Plassans auf der Straße nach Nizza lagerte, beschloß man, einen weiteren Gefangenen, den Verrufensten, zu erschießen. Die Sieger hielten es für richtig, diese frische Leiche zurückzulassen, um der Stadt Achtung vor dem aufgehenden Kaiserreich einzuflößen. Aber die Soldaten waren des Tötens müde; keiner erbot sich zu dieser unheimlichen Verrichtung. Die Gefangenen, die man, zu zweit an den Handgelenken aneinandergebunden, auf die Balken des Holzplatzes geworfen hatte wie auf ein Feldbett, horchten und warteten in müder und ergebener Benommenheit.
In diesem Augenblick schob plötzlich der Gendarm Rengade die Menge der Neugierigen beiseite. Sobald er erfahren hatte, daß die Truppe mit mehreren hundert Aufständischen zurückkehrte, war er, von Fieber schlotternd, aufgestanden, ohne in dieser abscheulichen Dezemberkälte auf sein Leben Rücksicht zu nehmen. Draußen brach seine Wunde wieder auf, die Binde, die seine leere Augenhöhle verbarg, färbte sich mit Blut, rote Fäden rannen ihm über Backen und Bart. Fürchterlich in seinem stummen Zorn, mit seinem bleichen, in blutiges Leinen gehüllten Kopf, lief er umher und schaute jedem Gefangenen lange ins Gesicht. So schritt er die Balkenstapel auf und ab, bückte sich, und auch die Standhaftesten schauderte es bei seinem plötzlichen Auftauchen. Und auf einmal brüllte er:
»Ah! Der Bandit, jetzt habe ich ihn!« Er packte Silvère an der Schulter.
Silvère hockte mit erstorbenem Gesicht auf einem Balken und starrte sanft und stumpfsinnig vor sich hin in die fahle Dämmerung. Diesen leeren Blick hatte er seit seinem Aufbruch aus SainteRoure. Den ganzen Weg lang, während vieler Meilen, als die Soldaten die Gefangenen mit Kolbenschlägen antrieben, war er sanft wie ein Kind gewesen. Staubbedeckt, ganz erschöpft vor Durst und Ermüdung, marschierte er wortlos weiter, wie ein gefügiges Tier unter der Peitsche des Kuhhirten in der Herde geht. Er dachte an Miette. Er sah sie, in die Fahne gehüllt, unter den Bäumen liegen und ins Leere schauen. Seit drei Tagen sah er nur sie. Und jetzt, tief im zunehmenden Dunkel, sah er sie immer noch.
Rengade wandte sich zu dem Offizier um, der unter seinen Soldaten die zur Exekution notwendigen Leute nicht hatte finden können.
»Dieser Lump da hat mir das Auge ausgestoßen«, sagte er zu ihm und wies auf Silvère. »Überlassen Sie ihn mir … Damit ist die Sache für Sie abgetan.«
Der Offizier zog sich, ohne zu antworten, mit gleichgültiger Miene und einer unbestimmten Handbewegung zurück. Der Gendarm begriff, daß man ihm den Mann überließ.
»Vorwärts! Steh auf!« schrie er und rüttelte ihn.
Silvère hatte, wie alle anderen Gefangenen, einen Kettengefährten. Er war mit einem Arm an einen Bauern aus Poujols gebunden, einen gewissen Mourgue, einen Mann von fünfzig Jahren, den die Sonnenglut und die harte Feldarbeit vertiert hatten. Er ging schon gebeugt, hatte steife
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